Lob und Dank gebühren Gott, dem Herrn der Welten, und der Friede Gottes sei mit seinem Diener, Freund und Propheten Muhammad und seinen geehrten Nachkommen.
Zunächst möchte ich Sie alle, geehrte Schwestern und Brüder, in meinem eigenen Namen und im Namen der Islamisch-Europäischen Union der Schia-Gelehrten und Theologen in Deutschland herzlich willkommen heißen, und ich hoffe, dass ihre Anwesenheit die Quelle von Gutem und Segen ist. Damit die Zeit besser genutzt werden kann, werde ich ohne weiteres Vorwort einige Punkte kurz erwähnen. Liebe Schwestern und Brüder! Wir Muslime, und insbesondere wir Schiiten, befinden uns in einem bedeutsamen historischen Zeitabschnitt. Nachdem die Muslime einige Jahrzehnte in der europäischen und speziell der deutschen Gesellschaft präsent sind, sind sie zu einem Teil dieser Gesellschaft geworden. Da die Muslime wie alle anderen Auswanderer auch, die aus verschiedenen Ländern in dieses Land gekommen sind, sich selbst zunächst als Gast gesehen haben und auch von der Gesellschaft so wahrgenommen wurden, haben sie, wie jeder andere Gast auch, dessen Herz mit seinem ursprünglichen Heim und seiner Familie verbunden ist, darauf gewartet, dass die Zeit des Besuches vorübergeht, um in das Heimatland zurückzukehren. Deshalb haben sich diese Auswanderer keine Gedanken über ihre Zukunft in dieser Gesellschaft gemacht, waren an den Angelegenheiten dieser Gastgebergesellschaft nicht interessiert und haben sich nicht verantwortlich gefühlt. Nun liegt aber der größte Fehler darin, dass sich die Vorstellung, Gast zu sein, fortsetzt und einprägt. Keine Gesellschaft wird das Phänomen des „Gastseins“ über lange Zeit akzeptieren. Eine lange Zeit Gast zu sein schadet nicht nur dem Gast selbst, sondern zieht auch für die gastgebende Gesellschaft vielfältige und ernste Schäden nach sich, wobei der geringste derartige Schaden das Entstehen von Unordnung in der Gesellschaftsordnung ist. Eine Gesellschaft gleicht einem Lebewesen, das Denken, Engagement, Ausdauer, Stabilität, Sicherheit und Entwicklung bedarf, und eine Gesellschaft kann diese Eigenschaften dann haben, wenn es in ihr Ordnung und Zusammengehörigkeit gibt; d. h. alle Elemente und Teile in diesem Ganzen, also der Gesellschaft, stehen miteinander im Zusammenhang, haben Verständnis füreinander, gehören zu einer Gesamtheit und werden dazu gezählt. Auf diese Art und Weise wird kein Element von dieser zusammengehörigen Gesamtheit (Gesellschaft) seinen Vorteil und Nutzen losgelöst vom Vorteil und Nutzen der Gesellschaft sehen und sich der Gesellschaft gegenüber verantwortlich fühlen. Wenn die in einer Gesellschaft präsenten Menschen und Gruppierungen unterschiedliche Ziele und gänzlich unterschiedliche Nutzen völlig getrennt voneinander verfolgen, dann kann diese Gesellschaft kein kollektives Ganzes sein, sondern sie wird vielmehr ein Ort sein, an dem einige Parallelgesellschaften unabhängig voneinander nebeneinander existieren. Zweifelsfrei wird keine Gesellschaft angesichts einer derartigen Bedrohung, die auf ihre Identität abzielt, gleichgültig bleiben. Integration und gesellschaftliches Verständnis sind die wesentlichen Bedingungen für die Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung. Es ist nur natürlich und selbstver-ständlich, dass der Schutz der gesellschaftlichen Ordnung und die Verwirklichung der Integration niemals die Negierung der individuellen Identität der Gesellschaftsmitglieder impliziert. Ebenso wie die Integration und der Schutz der gesellschaftlichen Ordnung eine Notwendigkeit darstellen, ist auch der Schutz der aus ihrer Unterschiedlichkeit resultierenden individuellen Identität der Gesellschaftsmitglieder eine Notwendigkeit. Grundsätzlich haben Verständnis und gesellschaftliche Ordnung ohne Verschiedenheit und Pluralismus keine Bedeutung. Wichtig ist jedoch, dass der Pluralismus in seiner Breite nicht das Verständnis, die Integration und die gesellschaftliche Ordnung schädigt. Die Immigranten jeder Gesellschaft haben in der Regel zwei Elemente, die ihre Identität bestimmen, nämlich Religion und Glaubenszugehörigkeit und des weiteren Nationalität und Rasse. Zum Glück ist die Religionsfreiheit eines der Hauptelemente der europäischen Gesellschaft und genauer gesagt der deutschen Gesellschaft, in der wir leben. Deshalb stellt das Element der Religion und der Glaubenszugehörigkeit kein Hindernis für die Integration und die Harmonie der religiösen Minderheiten, insbesondere der Muslime, in die europäische Gesellschaft dar. Der Islam ist zweifellos eine Religion, dessen Lehre sich nicht auf den individuellen Bereich des Lebens begrenzt, sondern viele seiner Lehren beziehen sich auf die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und das Verhalten des Individuums in der Gesellschaft. Darüber hinaus hat der Islam für eine Gesellschaft, in der die Mehrheit Muslime sind, bestimmte Empfehlungen für die Ordnung und die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen; man kann also sagen, dass der Islam eine Religion mit einer gesellschaftlichen und politischen Dimension ist. Das bedeutet aber niemals, dass die Muslime verpflichtet sind, ihre Meinung und ihren Glauben der Gesellschaft, in der sie leben, aufzuzwingen und das islamische Gesetz (Scharia) zu praktizieren. Das Gerede von Islamisierung und Praktizierung der Scharia in nichtislamischen Gesellschaften ist der Ausdruck von Unwissenheit einiger Extremisten, die ein rückständiges Verständnis von der islamischen Lehre haben, oder aber mit diesem Gerede wird die feindselige Absicht verbunden, die Menschen vor dem Islam zu ängstigen. Die Qur’aninterpreten und islamischen Gelehrten, die von der Praktizierung der Scharia in der Gesellschaft sprechen, meinen eine islamische Gesellschaft, und sie sprechen auch nicht von einem zwingenden Gesetz und Gebot, weil Zwang und Negierung der individuellen Freiheit eine unreligiöse und zu den islamischen Lehren im Widerspruch stehende Tat ist. Zweifellos macht der Islam die Identität eines jeden Muslims aus, und es ist das Recht der Muslime, ihre islamische Identität frei zu bewahren und in ihrem persönlichen und individuellen Leben die islamische Lehre zu praktizieren. Aber außerhalb des individuellen und persönlichen Lebensbereiches sind die Muslime verpflichtet, die Gesetze und Gegebenheiten dieser Gesellschaft zu achten und genau zu berücksichtigen. Diese Ansicht haben die großen Führungspersönlichkeiten des Islam bisher oft betont und diesbezüglich Rechtsgutachten erstellt. Es gilt zu beachten, dass das Erstellen von Rechtsgutachten dieser Führungspersönlichkeiten bedeutet, dass sie eine religiöse und religionsgesetzliche Ansicht darlegen, d. h. ihre Fatwa ist wie das religiöse Gesetz. Deshalb kann man eine Fatwa niemals als eine Meinung verstehen, die so verstanden werden kann wie z. B. die Aussage eines Politikers, die dieser aus taktischen Gründen äußert. Ich habe wiederholt gesagt, dass jede Ansicht, die die Beziehung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen auf der Grundlage von „Glauben und Unglauben“ bzw. „Gläubige und Ungläubige“ sieht, niemals zu Verständnis und Integration in dieser Gesellschaft beitragen, sondern vielmehr Feindschaft, Hass und Trennung verursachen wird. Im Heiligen Qur’an wird die Beziehung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen niemals auf der Grundlage von Glauben und Unglauben dargestellt. „Kufr“ (Unglaube) hat im Heiligen Qur’an eine spezielle Bedeutung, der in unserer heutigen Gesellschaft niemals Sinn findet. Natürlich müssen die Muslime ihre Identität bewahren, aber das bedeutet nicht, dass man gleichzeitig jede persönliche Interpretation als Ansicht des Islam akzeptieren kann. Vom Islam gibt es unterschiedliche Interpretationen und Erklärungen. Manche beachten nur Äußerlichkeiten und bewirken Stagnation, andere gründen auf persönlichem Interesse und Verständnis. Aber glücklicherweise glaubt die Schia an den „Islam des IºtihÁd“. IºtihÁd bedeutet die Unterscheidung zwischen dem Konstanten und dem Veränderlichen der islamischen Gebote, das Anbieten einer vernünftigen und für die heutige Zeit passenden Interpretation und die Bewahrung der in den islamischen Quellen, d. h. Schrift und Sunna, gegebenen konstanten Werte. Deshalb finden im schiitischen Islam (wenn wir die Grundprinzipien und den Hauptrahmen der Schia berücksichtigen) persönliche, auf das Äußere bedachte und Stagnation generierende, extremistische oder unlogische Interpretationen niemals Akzeptanz. Jegliche derartige Interpretation ist gleichbedeutend mit der Abweichung von den Hauptprinzipien und dem Rahmen des Schiitentums, das sich an der Ahlu-l-Bayt (a.s.) orientiert. Mäßigkeit und Rationalität sind die zwei wesentlichen Charakteristika des „IºtihÁd-Islams“, wie wir den Lehren der geehrten Imame der Ahlu-l-Bayt (a.s.) in aller Deutlichkeit entnehmen können, wonach das, was im Namen der Religion gelehrt wird und im Widerspruch zu Vernunft und Rationalität steht, keinen Wert hat und gewiss nicht zur Religion gehört. Das Imamatsprinzip, aus dem der „IºtihÁd-Islam“ seine Legitimation zieht, erklärt diesen wichtigen Punkt, dass ungeachtet der Tatsache, dass das Prophetentum beendet ist, die Interpretation des Qur’an und der religiösen Quellen ein kontinuierlicher Prozess ist, der parallel zum menschlichen Leben die Wahrheiten der Epoche darlegt. Deshalb kommt im IºtihÁdprozess den zwei Elementen Zeit und Ort eine wichtige und entscheidende Rolle zu. Aus diesem Grunde findet diese Interpretation und dieser IºtihÁd auf der Grundlage anerkannter Maßstäbe und Kriterien statt und nicht auf der Grundlage von persönlichem Verständnis und Interesse. Gewiss gäbe es ohne das Prinzip des Imamats und ohne die geehrten Imame der Ahlu-l-Bayt (a.s.) heute keinen auf IºtihÁd gründenden Islam und daraus resultierend auch kein Anzeichen islamischer Rationalität. Die Instanz des „Maraºiþat“ und die großen maßgeblichen religiösen Autoritäten im Laufe der schiitischen Geschichte sind deutliche Zeichen für die Verantwortung eines Islams, der auf IºtihÁd gründet. Die Gelehrten und insbesondere die großen Religionsgelehrten haben den „IºtihÁd-Islam“ immer geschützt und falsche Interpretationen von der Religion verhindert. Es besteht kein Zweifel, dass die Orientierung an den religiösen Autoritätsinstanzen das Wohlergehen und die Richtigkeit jeder religiösen Bewegung garantiert. Vor vier Jahren gab es eine vorbereitende Sitzung für die schiitischen Theologen und islamischen Zentren, in der festgelegt wurde, dass zwei Unionen gegründet werden sollen, eine für die Gelehrten und eine für die schiitischen Zentren. Die erste wurde glücklicherweise mit der Beteiligung der Gelehrten und Theologen in Europa und in Deutschland mit einer Satzung und Organisation unter dem Namen „Islamisch-Europäische Union der Schia-Gelehrten und Theologen“ gegründet. Aber die zweite Union, d. h. die der schiitischen Zentren, ist bisher leider bei den ersten vorbereitenden Schritten verharrt, obwohl es durchaus einige Bemühungen und Engagement in dieser Hinsicht gab, wie aus späteren Berichten hervorgehen wird. Aber es freut uns, dass mit der Hilfe Gottes und unseres großartigen Herrn der Zeit mit der „Union der Gelehrten in Deutschland“ der erste ernsthafte Schritt gemacht wird.