Nach einer Reihe von Konsultationen zwischen den Dozenten der islamischen Akademie Deutschlands und den christlichen Denkern Frankreichs, die schon seit sechs Jahren andauern, fand am 16. Mai 2017 erneut eine weitere Sitzung im Büro des Rats der Bischöfe Zentraleuropas in der französischen Hauptstadt Paris statt. Anwesend waren Ayatollah Dr. Ramezani, Leiter der Islamisch-Europäischen Union der Schia-Gelehrten und Theologen, Herr Dr. Jazari, Dozent an der Universität Sorbonne, Professor Vincent Feroldi, Leiter des christlichen Rats der Kardinäle Frankreichs, Professor John Mark Avelin, Kardinal und Mitgleid der Bildungskommission Vatikans und Sonderbeauftragter für die Christen in Zentraleuropa.
Zu Beginn begrüßte Prof. Feroldi die Anwesenden und bezeichnete die Abhaltung von gemeinsamen Dialogen und wissenschaftlichen Sitzungen der Religionen als eine Notwendigkeit der heutigen Gesellschaft, und fügte hinzu: „Vergangene Woche hatten wir den ägyptischen Mufti als Gast, und freuen uns, heute den Vertreter der schiitischen Instanzen und Leiter der Islamisch-Europäischen Union der Schia-Gelehrten bei uns zu haben. Für uns ist es wichtig, die Gelegenheit zu haben, direkt und in einer freundschaftlichen Atmosphäre die Ansichten der islamsichen Experten hören zu dürfen“.
Anschließend bedankte sich Ayatollah Ramezani für die Einladung und bekundete seine Freude über die Anwesenheit deim Rat der Bischöfe Zentraleuropas, und fügte hinzu: „Wir glauben genauso wie Sie an Dialoge in verschiedenen Bereichen. Wie Sie wissen, bedeuteten in der Vergangenheit Dialoge eigentlich Streit und ein Sieg über den Gegner. Doch heute finden Dialoge statt, um den Gesprächspartner besser kennen zu lernen, und um die Kultur anzureichern und Erfahrungen auszutauschen. Wir müssen die Religions- und Glaubensvielfalt akzeptieren, und sollten sie nicht bekämpfen. Sie ist eine Tatsache, die angenommen werden muss. Deshalb müssen wir die verschiedenen Religionen und Glaubensrichtungen und deren Heiligtümer respektieren. Eine Verunglimpfung der Religionen ist nicht zugelassen, denn dadurch kann man viele Menschen kränken und verärgern. Genauso wie „Freundlichkeit und Nächstenliebe“ im christlichen Glauben einen hohen Wert haben, so ist auch, nach den Lehren des Islams, Gott der Ursprung der Liebe, und sein letzter Prophet ist zur Verbreitung der Liebe hinabgesandt worden „انمّا بعثتُ رحمةً Ich bin nur für Barmherzigkeit hinabgesandt worden“. Im Koran steht auch: „وَمَا أَرْسَلْنَاكَ إِلَّا رَحْمَةً لِّلْعَالَمِينَ Und Wir entsandten dich nur aus Barmherzigkeit für alle Welten.“[1]
Wir sind der Ansicht dass die himmlischen Propheten hinabgesandt worden sind, um die Menschen Gott näher zu bringen, und wir – als die religiösen Rechtsleiter – sind verpflichtet, die Präsenz Gottes im alltäglichen Leben der Menschen zu intensivieren. Dabei müssen wir uns besonders der spirituellen Bindung der Jugend mit dem Schöpfer widmen“.
Auf die Frage von Prof. John Mark Avelin, der sagte: „Wir haben heute akzeptiert, dass es verschiedene Glaubensrichtungen gibt. Aber schon unter den Katholiken ,Protestanten und Orthodoxen gibt es Meinungsverschiedenheiten. Die Frage ist nun: Wie können wir ein friedliches Zusammenleben unter den Anhängern der verschiedenen Glaubensrichtungen erzielen?“, antwortete Ayatollah Ramezani: „Um ein friedliches Zusammenleben – weit entfernt von religiösen Gewalttaten – erzielen zu können, ist es notwendig und wichtig, dass man sich auf die Natur und die Gemeinsamkeiten der Religionen und Glaubensrichtungen konzentriert. Stellen Sie sich vor, in einer Region würde es zehn Brunnen geben. Ein oberflächlicher Blick würde uns sagen, dass sie von einander getrennt und unterschiedlich sind. Doch wenn man das Ganze genauer betrachtet, bemerkt man, dass alle Brunnen eine Quelle haben und von einem Grundwasserspiegel gespeist werden, und somit alle eigentlich gleich sind. Wenn man nun sich auf die Natur und Geist der Religionen, die Spiritualität, Nächstenliebe, Distanzierung von Egoismus und menschenwürdiges Verhalten gegenüber andere lehren, konzentriert, wird ein friedliches Zusammenleben unter den Anhängern der verschiedenen Glaubensrichtungen eine Leichtigkeit sein“.
Nach dieser Sitzung traf sich Ayatollah Ramezani mit den Theologiestudenten der Universität Sorbonne, und hielt eine zweistündige Rede über die „philosophische Exegese des Korans“.
[1] Al-Anbya, Vers 107