Hojjatoleslam Dr. S. M. N. Taghavi
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
Lobpreis sei Gott, dem Gepriesenen und Erhabenen; eine Lobpreisung, die zu einer Verbindung wird zum Gehorsam Ihm gegenüber und zu Seinem Verzeihen, zu einem Band zu Seinem Wohlge-fallen, zu einem Mittel zu Seiner Vergebung, zu einem Weg zu Seinem Garten, zu einem Schutz vor Seiner Vergeltung …“ (Auszug aus dem 1. Bittgebet in al-Æa½Ífah al-SaººÁdiyyah). Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Ich rate mir selbst und Ihnen zu Frömmigkeit und Gottesfurcht.
Frömmigkeit und Vermeiden der Grenzen der Sünde
In unseren bisherigen Ausführungen haben wir gesagt, dass die Frömmigkeit und Gottesfurcht ver-schiedene Stufen und Ränge hat. Obwohl eine der Bedeutungen und Grade der Gottesfurcht darin be-steht, sich von Sünden fernzuhalten, gebietet ein höherer Rang der Gottesfurcht, dass der Mensch nicht nur von sündhaftem Verhalten, sondern sogar von den Grenzen der Sünden Abstand hält. Das ist ver-gleichbar mit einem gefährlichen Gegenstand oder Phänomen, wie z. B. Feuer oder etwas, das sehr heiß ist, oder mit einer gefährlichen Schlucht, auf deren Gefahr man in einigen Metern Entfernung mittels besonderer Warnzeichen hingewiesen wird, so dass man sich dieser gefährlichen Umgebung nicht weiter nähert. Selbstverständlich ist derjenige, der einige Meter Abstand von dieser Schlucht hat, nicht in Gefahr, während er, wenn sein Abstand null wird, in die Tiefe stürzen wird. Vernunft und Vorsicht lassen jedoch nicht zu, dass man z. B. am Rande der Schlucht einen Spaziergang mit den Kin-dern macht oder die Kinder in deren unmittelbaren Nähe spielen lässt. Warum? Der Grund dafür ist, dass ein Augenblick der Unachtsamkeit die Gefahr in sich birgt, dass ihr Fuß abrutscht oder sie ein starker Wind erfasst, der sie in die Schlucht zu wehen droht.
Im Kontext der islamischen Moral sind Sünden wie diese gefährlichen Grenzen, und deshalb wurde das Fernbleiben von dieser Umgebung und diesen Grenzen der Sünden zugunsten einer größeren mo-ralischen Sicherheit und Gesundheit der Seele empfohlen. Im Zusammenhang mit der Gottesfurcht wird der Begriff „wiqÁyat“ gebraucht, d. h. dass man sich von Sünden fernhalten soll. Je höher der Grad der Gottesfurcht ist, desto größer ist dieser Abstand von der Gefahr. Genauer gesagt ist man wachsamer hinsichtlich dieser Gefahren und wird diese Sperrzone für sich selbst möglichst breit ma-chen. Das einfache Beispiel des Sprechens macht deutlich, mit welchen Gefahren der Sünde wir uns
mittels unserer Äußerungen aussetzen. Diese kleine Zunge kann sehr leicht bewegt werden, aber die
Richtung und die Art und Weise des Sprechens sind ähnlich gefährlich wie die gefährlichen Wege in
den Bergen. Wenn wir die Wege gut und sicher zurücklegen, können wir den Gipfel der Vollkommen-heit erreichen. Aber wenn wir nicht aufpassen, dann wird es, je höher wir gehen, umso gefährlicher und desto eher können wir abstürzen. Lügen, Verleumdung, üble Nachrede und schlechtes Reden, Selbsteingenommenheit, sich beim Reden zur Schau stellen, die Fehler der anderen suchen, sich über andere lustig machen oder andere beschimpfen, alle diese Eigenschaften sind Schluchten der Zunge, und selbstverständlich muss man sich von diesen Sünden fernhalten, wie in der Vergangenheit bereits erläutert wurde.
Sich Sünden zu enthalten, sich zu bemühen, keine üble Nachrede zu begehen, nicht zu lügen usw., sind allesamt Zeichen von Gottesfurcht. Aber eine höhere Ebene der Gottesfurcht besteht darin, dass man nicht nur selbst nicht lügt oder üble Nachrede begeht, sondern dass man sich durch seine Äußerungen nicht der Grenze dieser Sünden nähert, indem man andere in Gefahr bringt, diese Sünde zu begehen, so dass man letztlich mittels einer anderen Person dennoch mit der Sünde konfrontiert wird. Deshalb bedeutet Gottesfurcht auch, dass man nicht nur auf das, was man sagt, sondern auch wie man etwas sagt, bedacht ist, dass man also nicht nur die direkte Auswirkung seiner Äußerung beachtet, sondern auch die indirekten Auswirkungen. Man muss also aufpassen, dass man mit seiner Äußerung nicht zwei Freunde entzweit oder zwischen Mann und Frau oder Bruder und Schwester einen Konflikt ent-facht. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Beispiel aus dem heiligen Qur’an anführen. In Sure al-A½zÁb, Vers 32, sagt Gott zu den Ehefrauen des Propheten des Islam, dass sie auf die Art ihres Sprechens achten müssen, so dass sie z. B. mit Männern nicht sehr emotional reden, weil diese Art der emotionalen Unterhaltung verursachen könnte, dass jemand, dessen Herz krank ist, auf schlechte Ge-danken kommt. Deshalb erwartet Gott von ihnen eine höhere Gottesfurcht:
„…wenn ihr gottesfürchtig sein wollt, dann seid nicht entgegenkommend im Reden, damit nicht der, in dessen Herzen Krankheit ist, Erwartungen hege, sondern redet in geziemenden Worten.“ (Sure al-A½zÁb, Vers 32).
Hieraus wird deutlich, dass es per se nicht schlecht oder sündhaft ist, wenn man liebenswürdig und entgegenkommend spricht, es jedoch unter besonderen Umständen, in denen man sich den Grenzen der Sünden nähert, abgelehnt wird. Wir hoffen, dass wir alle zu denjenigen gehören, die diesen Grad der Gottesfurcht erreicht haben und wie diejenigen sind, die nicht nur die Gesundheit ihres Körpers z. B. mit Impfungen vor Viren und Bakterien schützen, sondern auch ihren Geist gesund halten, um das Ufer der Glückseligkeit zu erreichen.
Fortsetzung der Erörterung des qur’anischen Toleranzbegriffes
Unser Thema der letzten Ansprachen war die Toleranz im islamischen Kontext. Bei der Kategorisie-rung der qur’anischen Verse im Hinblick auf die Toleranz wurden bereits die Verse erörtert, in denen die Eigenschaft der Toleranz und Duldsamkeit als eine besondere moralische Eigenschaft des Prophe-ten des Islam (s.a.s.) vorgestellt wird, und zweitens auch die Fälle und Qur’anverse, in denen Gott To-leranz und Nachsicht empfiehlt. Heute wollen wir uns mit der dritten Kategorie beschäftigen, nämlich den Versen, in denen Gott die Grenzen und Ausnahmefälle der Toleranz erklärt. Da diese Ausnahmen im Kontext dieser Thematik der Interpretationen bedürfen, muss man die qur’Ánischen Verse genau betrachten, um diese Ausnahmen und Grenzen der Toleranz richtig und gut verstehen zu können.
3. Die Ausnahmen und die Grenzen der Toleranz im Islam
Toleranz und Duldsamkeit werden in den Religionen, und insbesondere im Islam als sehr hohe Werte betont, und dies geht aus dem Verhalten der göttlichen Propheten und speziell des Propheten des Islam (s.a.s.) deutlich hervor. Wie viele andere wertvolle Werte hat auch die Toleranz und Duldsamkeit in manchen Bereichen gewisse Ausnahmen. Im Grunde basiert die Bewahrung und Achtung dieser Werte auf der Berücksichtigung dieser Ausnahmefälle. Selbstverständlich muss aufgrund der quantitativ ge-ringen Anzahl dieser Ausnahmen, diesen Fällen aufgrund ihrer Wichtigkeit besondere Aufmerksam-keit geschenkt werden, d. h. die Erkenntnisse hinsichtlich dieser Ausnahmefälle sind unentbehrlich. Zum Schutz der quantitativen Mehrheit der Fälle und der grundsätzlichen Regel müssen bestimmte Ausnahmen erkannt werden. In modernen Thematiken sehen wir, dass immer da, wo die Rede von Werten ist, diese betont und in einem theoretischen Kontext erörtert werden, zum Schutz und für die Bewahrung diese Werte gleichzeitig bestimmte Begrenzungen festgelegt werden. Deshalb haben Leute wie z. B. John Stuart Mill, der über die Freiheit im Bereich der Politik und Gesellschaft gesprochen hat, die Freiheit nicht absolut gesetzt. Folglich werden zum Schutz der Freiheit deren Widersacher als Ausnahme von dieser allgemeinen Regel angesehen. (s. Text mit dem Titel „Freiheit“ von John Stuart Mill).
Wie bereits erwähnt wurde, betrifft Toleranz denjenigen, der nicht der Freund eines Menschen ist. Die nachdrücklichste Betonung der Toleranz im Heiligen Qur’an sehen wir da, wo Gott Seinem Propheten Mohammad (s.a.s.) empfiehlt, nicht nur mit den sündigen Gläubigen, sondern auch mit den Götzen-dienern, die bei ihm Schutz suchen, und sogar mit denjenigen, die seiner Einladung niemals Gehör geschenkt haben, und deren Herzen seine Botschaft niemals annehmen werden, tolerant zu sein und diesen Menschen zu verzeihen:
„Die aber, die ihr statt Ihm anruft, vermögen euch nicht zu helfen, noch können sie sich selber helfen. Und wenn ihr sie zum rechten Weg ruft, so hören sie (euch) nicht. Und du siehst sie nach dir schauen, doch sie sehen nicht. Übe Nachsicht, gebiete das Rechte und wende dich von den Un-wissenden ab.“ (Sure al-AþrÁf, Verse 197-199).
„Und wenn einer der Götzendiener bei dir Schutz sucht, dann gewähre ihm Schutz, bis er Allahs Worte vernehmen kann; hierauf lasse ihn den Ort seiner Sicherheit erreichen. Dies (soll so sein), weil sie ein unwissendes Volk sind.“ (Sure at-Tauba, Vers 6).
Aber die Toleranz hat aus der Sicht des Heiligen Qur’an gewisse Ausnahmen und Grenzen. Bevor wir uns mit diesem Thema beschäftigen, soll nicht unerwähnt bleiben, dass sogar in areligiösen Diskussio-nen der Toleranzbegriff nicht immer und überall absolut verstanden wird. Leute wie Karl Popper oder Samuel Huntington, die von offener Gesellschaft und Demokratie sprechen und Toleranz hervorheben, erwähnen auch immer da, wo die Rede von den Feinden der offenen Gesellschaft und Demokratie ist, Ausnahmen für die Toleranz. Oder jemand wie Hannah Arendt, die Gewalt im individuellen und ge-sellschaftlichen Leben verneint, kann in Ausnahmefällen nicht auf Gewalt verzichten, wie ihre nach-folgenden Worte verdeutlichen: „Niemanden kommt es in den Sinn, die Berechtigung von Gewalttä-tigkeit im Falle der Selbstverteidigung in Frage zu stellen…“
Allerdings ist hierbei sehr wichtig, wie man diese Ausnahmen interpretiert, denn wenn man nicht auf die Bestimmung dieser Grenzen und Ausnahmen achtet, besteht die Gefahr, dass das Grundprinzip dieser Theorie in Frage gestellt wird. Ebenso kann eine Erörterung der Toleranz auf epistemologischer Ebene und die Verbreitung dieser Art der Erkenntnislehre zu einer Relativierung der Erkenntnis füh-ren, und es ist vor allem diese Art der Relativierung, die die Theorie der Toleranz zerstört und keinen Maßstab für die Erkenntnis und Unterscheidung des richtigen vom falschen Gedanken lässt. Wenn die Toleranz in den Bereich der Epistemologie gelangt, kommt dies in Wirklichkeit der Verneinung jeder Art von Ausnahme im Zusammenhang mit der Toleranz gleich, und bei einer relativierten Erkenntnis zusammen mit einem fehlenden Maßstab für die Unterscheidung des Richtigen vom Falschen hat eine Theorie gegenüber einer anderen keinen Vorzug mehr; dann könnten z. B. auch Faschismus und Na-zismus behaupten, ihre Idee und ihre Meinung, die jegliche Toleranz vernichtet und jedes Gewaltmittel rechtfertigt, sei ebenso richtig und gültig wie das Denken ihrer Gegner.
Zusammenfassend gesagt besteht der Schutz der Toleranz insbesondere im Kontext einer detaillierten religiösen Diskussion in der Einbeziehung der Ausnahmefälle. Damit Menschen glauben, muss für alle eine Atmosphäre geschaffen werden, die der gedanklichen Reife der Menschen zuträglich ist, so dass sie ihre Entscheidung und Wahl treffen können. Alle Religionen, vor allem der Islam, werden in einem solchen Zustand der bewussten und freien Wahl gedeihen.
„Wir haben ihm den rechten Weg gezeigt, mochte er nun dankbar oder undankbar sein.“ (Sure al-InsÁn, Vers 3).
Deshalb darf die Toleranz in der Tat nicht missbraucht werden als ein Mittel in der Hand derjenigen, die diese gesunde und freie Atmosphäre zerstören und die Gegebenheiten so gestalten wollen, dass die bewusste Wahl und Entscheidung für die Menschen in einer vergifteten Atmosphäre zu einer unange-nehmen Auseinandersetzung wird, in denen sie mit Problemen konfrontiert werden. Das kann keine der göttlichen Religionen akzeptieren. In diesem Bereich empfiehlt und betont der Islam eine Zone der religiösen Toleranz für die Akzeptanz des Grundsatzes der Religion, im Umgang der Religionen mit-einander, im Verhalten der Menschen zueinander, gleich ob Muslime oder Nichtmuslime, im individu-ellen und gesellschaftlichen Bereich und in manchen Fällen sogar in der Gesetzgebung. Aber in Fällen, in denen die Strukturen so verändert werden, dass die gesunde Atmosphäre des Denkens und der Wahl in eine ungesunde Atmosphäre ohne Wahlfreiheit verwandelt wird, in diesen wenigen Ausnahmefällen muss man sich gegen die eingeschworenen Feinde der Freiheit, die gegen diese allgemeine Empfeh-lung zur Toleranz intrigieren und diese missbrauchen, mit Entschlossenheit und Standhaftigkeit zur Wehr setzen und diese bekämpfen.
So Gott will, werden wir diese Thematik bei der nächsten Ansprache fortsetzen. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.