Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.In den vergangenen Freitagsansprachen haben wir über die Bedeutung der Rationalität und Religiosität in den religiösen Lehren und Geboten gesprochen und sind dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass selbst die Anbetung, die eine verborgene Identität hat, rational akzeptiert und praktiziert werden soll, denn Religiosität basiert auf rationaler Argumentation. Aus islamischer Sicht sind die Hauptelemente des Lebens das Bewusstsein und die Erkenntnis. Was im Bereich der Erkenntnis wichtig und gültig ist, sind die rationalen Erkenntnisse, und alle Bereiche des menschlichen Lebens sollen eine rationale Rechtfertigung aufweisen. Zusammenfassend gesagt besteht das Konzept in einem besseren Leben, von dem auch im Qur’Án die Rede ist, dem „½ayÁt Ôayyebe“, einem reinen und rationalen Leben. Zweifellos wird ein wichtiger Teil des Lebens in der direkten Beziehung mit dem Schöpfer und Seiner Anbetung geformt. Das ist der religiöse Aspekt des Lebens, der jedoch auf einer gewissen rationalen Rechtfertigung basiert. Religiosität an sich beansprucht keinen Erkenntniswert, sondern definiert ihren Wert aus ihrer Grundlage der Rationalität und rationalen Erkenntnis. Wenn wir von der Expertise und Wahrhaftigkeit eines Arztes Kenntnis haben, werden wir seine Empfehlungen akzeptieren, und diese Art der Akzeptanz basiert auf einer gewissen Rationalität. Die Rolle der Vernunft im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen Wenn wir über den Bereich der Religiosität und Anbetung hinausgehen, so finden wir in anderen Bereichen der menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen bestimmte Maßstäbe und Bezüge vor, die der Mensch mittels seiner Vernunft und seines Verstandes verstehen und unterscheiden kann. D. h. die Ratio kann entweder aus sich oder mittels einiger in der Religion und göttlichen Offenbarungen enthaltenen Zeichen und Merkmale das Schlechte vom Guten unterscheiden und sich für die Kenntnis und Wahl des Besseren entscheiden. In solchen Fällen, in denen die Ratio die Möglichkeit hat, eine auf Erkenntnis gründende endgültige Entscheidung zu treffen, wird die Religion niemals ein bestimmtes Gebot haben, das diesem widerspricht. Tatsächlich hat die Religion
viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Ratio des Menschen überlassen und bestätigt und unterschreibt die rationale Entscheidung. Prinzipiell sind die islamischen Gebote in zwei Kategorien unterteilbar, nämlich erstens begründete Gebote und zweitens gebilligte Gebote. Begründete Gebote sind jene, die seitens des Propheten und der göttlichen Offenbarung begründet werden und ihre Legitimation durch die Offenbarung erlangen. Viele religiöse Zeremonien und Rituale gehören zu dieser Kategorie, die wir zuvor ausführlich erklärt haben. Die religiösen Pflichten und alles, was zur Scharia gehört, sind begründete Gebote. Im Unterschied dazu sind die gebilligten oder bestätigten Gebote jene Vorschriften, deren Gründe und Erklärungen nicht in der Religion und göttlichen Offenbarung liegen, sondern mit einer Vielzahl von Erkenntnissen und rationalen Lehren und Traditionen rational gerechtfertigt werden, d. h. die Menschen haben aufgrund ihrer Erkenntnisse diese Gebote gerechtfertigt und tun dies noch immer. Der Islam bestätigt diese rationalen und traditionellen Strukturen und menschlichen Ziele, weil sie mit den Geboten konform sind. Zuweilen erfolgt diese Bestätigung nach einigen Korrekturen, worauf ich im weiteren Verlauf meiner Ansprache noch eingehen werde. Eines der wichtigsten und besonderen Merkmale des Islam, dem viele Menschen besondere Achtung schenken, ist seine gesellschaftliche Dimension, die für manche Anlass zu Begeisterung und für andere zu Kritik ist. Zweifellos ist der Islam eine gesellschaftliche Religion, der die Rolle und Art und Weise der Präsenz des Individuums in der Gesellschaft und seiner Funktion Achtung schenkt. Der Islam betont, dass ein religiöser Mensch in seinem gesellschaftlichen Leben im Umgang mit Anderen ein gutes und akzeptables Benehmen haben soll. Wir müssen jedoch zugeben, dass die islamische Gesellschaftstheorie den Nichtmuslimen, der westlichen Welt und sogar manchen Muslimen nicht in aller Richtigkeit und Deutlichkeit erklärt und interpretiert wurde. Man sollte auch nicht erwarten, dieses Ziel im Rahmen einer solchen begrenzten Möglichkeit verfolgen zu können, aber ich werde mich bemühen, dieses Thema kurz und unter Berücksichtigung der begrenzten Zeit, die mir zur Verfügung steht, zu behandeln. Zunächst ist es notwendig, die individuelle und die gesellschaftliche Tat zu definieren. Solange der Maßstab der individuellen Tat und der Unterschied zur gesellschaftlichen Tat nicht klar und deutlich sind, können wir nicht verstehen, was mit gesellschaftlichem Islam und mit islamischer Gesellschaft gemeint ist. Der beste und genaueste Maßstab für die Unterscheidung und Trennung der individuellen von der gesellschaftlichen Tat ist das Gemeinwohl. Jedes Verhalten und jede Tat, die Bezug zum gesellschaftlichen Gemeinwohl aufweist, wird als gesellschaftliche Tat bezeichnet, und jedes Verhalten, das sich auf den Nutzen für das Individuum bezieht, gilt als individuelle Tat. Weil die Bestimmung des Nutzens jedem selbst überlassen ist, und kein anderer das Recht hat, sich an diesem Prozess zu beteiligen, ist die Entscheidung über die individuelle Tat allein das Recht des Individuums, und jede Art von Beteiligung an der Entscheidung käme einer Einschränkung des Rechts des Individuums gleich. Deshalb haben wir für die individuelle Tat viele Beispiele, die wir nicht auf das reduzieren können, was wir in der Regel als Privatleben bezeichnen, sondern es umfasst auch Verhaltensweisen, die das Individuum im Rahmen der Gesellschaft tut, wie beispielsweise die Partizipation an Wahlen. Aber auch wenn dieses Recht in der Gesellschaft wahrgenommen wird, kann man die Teilnahme an Wahlen nicht als eine rein gesellschaftliche Tat bezeichnen. Normalerweise besteht der individuelle Maßstab bei Wahlen in der persönlichen Zweckmäßigkeit, d. h. das Individuum berücksichtigt dabei seine eigenen Vorteile und wird dem seine Stimme geben, der seine Vorteile sichert. Nun sollen wir sehen, worin das Individuum seine Vorteile sieht und inwieweit gesellschaftliche, religiöse, tribalistische und nationale Faktoren und Absichten auf seine Definition von Zweckmäßigkeit einwirken bzw. ob sie für seine Wahlentscheidung bedeutungslos sind. An Wahlen zu partizipieren manifestiert sich in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, hat aber dennoch ein individuelles Wesen, wie man z. B. auch seinen Beruf oder seinen Ehegatten wählt oder wie man sich bekleidet. Alle diese Dinge haben ein gemeinsames Wesen, obwohl der Mensch selbst die freie Entscheidung hat, und natürlich wird er sich zugunsten seiner Vorteile entscheiden, was sie letztlich als individuelle Taten kennzeichnet. Deshalb kann man das individuelle Handeln in zwei Teile aufteilen, nämlich erstens Taten, die im Rahmen des individuellen Privatlebens stattfinden, wie z. B. essen, schlafen, Freundschaft mit jemandem pflegen, die Wahl des Ehegatten, die Beziehung zum Ehegatten, zu den Kindern und anderen Verwandten usw., und zweitens Taten, die im gesellschaftlichen Rahmen stattfinden, wie z. B. das passive und aktive Wahlrecht, Bekleidung, Arbeit und jedes Engagement, das allein auf das Individuum bezogen ist. Wenn also eine individuelle Tat in der Gesellschaft geschieht, ist das kein Argument dafür, dass es eine gesellschaftliche Tat ist, wie bereits erklärt wurde. Aber vielleicht kann man sagen, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen diesen beiden Arten des individuellen Handelns gibt, wenngleich in beiden Fällen das Recht und die Freiheit des Individuums betroffen sind, ist im zweiten Fall, also bei den Handlungen, die in der Gesellschaft stattfinden, das gesellschaftliche Gemeinwohl involviert. Bei derartigen Fällen sollte das Individuum bei seinen Entscheidungen nicht das gesellschaftliche Gemeinwohl oder andere gesellschaftliche Gesetze verletzten. Klar ausgedrückt heißt das: Obwohl das Individuum hinsichtlich der Taten und Entscheidungen, die rein auf es selbst bezogen sind, nicht verpflichtet ist, das gesellschaftliche Gemeinwohl und die Vorteile der anderen zu berücksichtigen, ist es aber verpflichtet, bei der Wahrung seiner eigenen Vorteile nicht zu übertreiben und das gesellschaftliche Gemeinwohl und die Vorteile der anderen nicht zu beeinträchtigen. Handeln auf gesellschaftlicher Ebene Neben der individuellen Tat gibt es die gesellschaftliche Tat, deren Entscheidungsmaßstab das Gemeinwohl der gesamten Gesellschaft ist. Gemäß dieser Definition sind Herrschaft und Regieren, die das Schicksal der gesamten Gesellschaft betreffen, eine gesellschaftliche Tat, bei der man niemals den reinen Nutzen und Vorteil des Individuums berücksichtigen kann, selbst wenn dieses Individuum Politiker und Staatsmann wäre mit der Pflicht, zu regieren und politische Entscheidungen zu treffen. Das Zivilrecht und alle Gesetze und gesellschaftlichen Bedingungen einer jeden Gesellschaft gehören dem Bereich des gesellschaftlichen Handelns an, ausgenommen der Bereich, der sich mit der Interpretation der Rechte des Individuums beschäftigt. Die Absicht und der Hauptgrund, warum diese Dinge als ungültig bzw. als gesetzlich erklärt werden, sind die Sicherung des gesellschaftlichen Gemeinwohls und der Nutzen aller Individuen. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie z. B. Politik und Wirtschaft gehören zum Bereich des gesellschaftlichen Handelns. Die unterschiedlichen Formen des menschlichen Verhaltens Aus dem bisher Gesagten wurde deutlich, dass wir es grundsätzlich mit drei unterschiedlichen menschlichen Verhaltensweisen zu tun haben:1. Individuelles Verhalten im privaten Bereich.2. Individuelles Verhalten im gesellschaftlichen Leben.3. Gesellschaftliches Verhalten, was alle Bereiche des soziopolitischen Lebens in der Gesellschaft umfasst. Nun wollen wir feststellen, was die Ansicht des Islam über jede dieser drei Verhaltensweisen ist oder anders gefragt: Was will der Islam, und welche Wirkung will er auf diese drei unterschiedlichen Verhaltensweisen haben? Ein Großteil von dem, was wir zu den religiösen Pflichten und der Scharia zählen, bezieht sich auf die zwei Bereiche des individuellen Handels der religiösen und gläubigen Menschen. Manche von diesen Pflichten und Gesetzen beziehen sich auf das Privatleben des Menschen, wie z. B. das Fasten, die Gesetze über Essen und Trinken, die Wahl des Ehegatten und dergleichen, wieder andere wie z. B. die Zeremonien der Pilgerfahrt, das Verbot von Wucherei und Bestechung, die Bekleidungsvorschriften für Frauen und Männer oder das Freitagsgebet sind Zeremonien und individuelle Taten, die im Rahmen der Gesellschaft stattfinden. Aber wie bereits erklärt wurde, sind dies gänzlich individuelle Angelegenheiten, die von der Entscheidung und dem Willen des Individuums abhängig sind. Andere religiöse Pflichten können im Rahmen der Gesellschaft und auch vollkommen im privaten Bereich erfüllt werden, wie z. B. die täglichen rituellen Gebete, die man in der Gemeinschaft oder auch allein zu Hause verrichten kann. Letztlich muss man beachten, dass begründete Gebote im Islam, die man als Scharia und religiöse Pflichten bezeichnet, nicht alle Dimensionen des individuellen Lebens der gläubigen und religiösen Menschen umfassen, sondern der Islam hat einen großen Bereich des individuellen Lebens, der sich auf die Beziehungen des Individuums mit Anderen im Bereich der Familie und Gesellschaft bezieht, die auf menschlichen und moralischen Werten basieren, betont und unterschrieben, wie der Prophet des Islam mit aller Deutlichkeit gesagt hat: „Ich wurde entsandt, damit ich die moralischen Schönheiten und Weisheiten verbreite.“ Sich der Lüge zu enthalten, die Betonung von Freundlichkeit und Freundschaft zu anderen, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Opferbereitschaft und der Lösung der Probleme der Anderen den Vorzug zu geben vor der Lösung der eigenen Probleme, sich der Unterdrückung und der Vernachlässigung der Rechte der Anderen zu enthalten, wenn sie auch unsere Feinde sind, die Verantwortung gegenüber Verträgen und Vereinbarungen, die Berücksichtigung der Rechte der Tiere und dass man sie nicht quält, den Schutz der Umwelt und natürlichen Quellen, die angemessene Nutzung von Allgemeingut und die Berücksichtigung der Rechte und des Anteils der anderen Individuen der Gesellschaft bei der Nutzung dieses Allgemeinguts, die Achtung gegenüber Älteren, insbesondere den Eltern, gutes Benehmen und Freundlichkeit gegenüber jungen Menschen, und Hunderte oder Tausende solcher kleinen und großen moralischen Lehren, die das rationale menschliche Urteil gutheißt und an deren Richtigkeit es keinen Zweifel gibt, dies alles sind Gesetze und islamische Lehren und Werte, zu denen der Islam seine Anhänger und alle Menschen einlädt, und die heiligen islamischen Quellen erklären und interpretieren diese Gesetze und Lehren. Aber im Bereich des gesellschaftlichen Handelns sind begründete islamische Gesetze quantitativ gering und begrenzt. In den meisten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens werden die islamischen Gebote bestätigt und unterschrieben, und in diesem Bereich ist es für den Islam sehr wichtig, dass die Berücksichtigung der Moral und gesellschaftlichen Gerechtigkeit auf Rationalität basieren. Jeder Brauch und jedes Gesetz, das so etwas bestätigt, wird genau mit diesem Maßstab gebilligt und bestätigt. Die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verträge und Vereinbarungen sind weitere Grundprinzipien, die im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen äußerst wichtig sind und betont werden. Aus der Sicht der islamischen Scharia akzeptiert jedes Individuum mit seinem Eintritt in die Gesellschaft und der Möglichkeit der gesetzlichen Nutzung dessen, was die Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, automatisch einen Vertrag und eine Vereinbarung. Daraus resultiert seine Verpflichtung, die Vorschriften, Gesetze und Bedingungen dieser Gesellschaft zu berücksichtigen, und jede Art von Weigerung wäre ein Zeichen der Untreue gegenüber diesen Gesetzen und Vereinbarungen, was gemäß den existenten Gesetzen in jeder Gesellschaft mit Sanktionen belegt wird. Aus islamischer Sicht stellt es eine Sünde dar und wirkt auch auf das Jenseits, womit sich ein Teil des islamischen Rechts und der islamischen Scharia beschäftigt. Deshalb bestätigt der Islam Bräuche. rationale Strukturen, Gesetze und Vorschriften der verschiedenen Gesellschaften und gesellschaftlichen Verträge, und bewahrt diesen Dingen gegenüber kein Stillschweigen und keine Gleichgültigkeit, sondern er verlangt von seinen Anhängern, dass sie diese Bedingungen und Gesetze genau so wie die Gesetze der ersten Kategorie, würdigen und treu und verantwortlich zu ihnen stehen. Wir haben erwähnt, dass der Islam im Bereich der Beziehungen und gesellschaftlichen Entscheidungen Bräuche und rationale Methoden grundsätzlich bestätigt und betont. Es gibt jedoch einige begründete Gesetze, wie z. B. manche Strafgesetze, und hier stellt sich die Frage, ob im Hinblick auf diese begründeten Gesetze der Islam von seinen Anhängern verlangt, diese Gesetze in der Gesellschaft zu praktizieren oder nicht? Sind die Muslime verpflichtet, die islamische Scharia in dieser Gesellschaft, in der sie leben, zu praktizieren oder nicht? Auf diese Fragen werde ich inÊa’AllÁh in der nächsten Freitagsansprache ausführlich antworten. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.