Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In der letzten Freitagsansprache haben wir über die Stellung und Funktion der Religiosität und Rationalität im Glauben gesprochen und in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die Botschaft des Qur’an so klar und argumentativ ist, dass jeglicher Zweifel im Hinblick darauf mit Hilfe von ein wenig Nachdenken beseitigt wird. Deshalb bezeichnet der Qur’an seine Botschaft als klares und aussagefähiges Zeichen der Wahrheit, wie beispielsweise in Sure al-Baqara, Vers 99. Der Qur’an verlangt vom Menschen nicht, dass er diese Botschaft allein auf der Grundlage von Religiosität und Vertrauen auf die göttlichen Propheten akzeptiert. Vielmehr setzt der Qur’an voraus, dass der Mensch von seiner Vernunft und seinem Verstand Gebrauch macht und fern von jeder oberflächlichen Emotionalität und falschen traditionellen Wahrnehmung über die Bedeutung dieser Botschaft nachdenkt und Überlegungen anstellt. Der Qur’an verweist nachdrücklich darauf, dass die Anwendung von Rationalität und Vernunft den Weg zu seiner Glückseligkeit und Rettung weist. Der Qur’an geht sogar so weit, dass er mit den Worten der Ungläubigen und der Zweifler, die den Qur’an in Frage stellen, erzählt, dass diese Menschen, nachdem sie im Jenseits ihre aufbegehrenden Gefühle unter Kontrolle und die Wahrheit erfahren haben, bereuen und zugeben, dass sie einen Fehler gemacht haben; sie sagen, wenn wir auf den Propheten gehört und von unserer Vernunft Gebrauch gemacht hätten, währen wir jetzt gerettet und würden nicht bestraft werden, wie in Sure al-Mulk, Vers 10, geschrieben steht. Der wichtige Punkt im Hinblick auf diesen Vers besteht darin, dass nicht nur der Gehorsam gegenüber dem Propheten als Voraussetzung für die Rettung angesehen wird, sondern dieser Gehorsam gegenüber dem Propheten wird verbunden mit Reflexion. Dies verdeutlicht, dass aus qur’anischer Sicht der Weg der Rettung und Erlösung nicht in absoluter Religiosität liegt,
sondern das vielmehr Rationalität und Weisheit entscheidend sind, das bedeutet, Religiosität ist richtig und akzeptabel, wenn sie gemäß den Prinzipien der Rationalität gerechtfertigt ist. Die Ansprechpartner Gottes im Qur’an sind diejenigen, die über Verstand und Rationalität verfügen, und auf dieser Grundlage wurden den Menschen die wichtigsten Botschaften erklärt, wie z. B. in Sure al-Baqara, Verse 179 und 197, Sure Àl-eþImrÁn, Vers 190, Sure al-MÁ’ida, Vers 100, Sure al-AmbiyÁ’, Vers 10, Sure ar-RÚm, Vers 28, Sure ÆÁd, Verse 29 und 43, Sure ³Áfir, Verse 53 und 54, Sure al-¼adÍd, Vers 17, Sure aÔ-ÓalÁq, Vers 10 oder Sure al-Faºr, Vers 5. Die Ungläubigen und diejenigen, die Gott in Frage stellen, werden nicht bestraft, weil sie die Botschaft des Propheten nicht akzeptieren, sondern ihre Strafe resultiert aus der blinden Nachahmung ihrer Vorväter und dem unüberlegten Festhalten an Traditionen, mit denen sie sich rational nicht auseinandersetzen und folglich diese logische Aussagen ablehnen. Deshalb werden sie verurteilt, und sie werden gefragt, warum sie nicht nachdenken und von ihrem Verstand keinen Gebrauch machen, wie z. B. in den Versen 44 und 76 der Sure al-Baqara, Sure Àl-e þImrÁn, Vers 65, Sure al-AnþÁm, Vers 32, Sure al-AþrÁf, Vers 169, Sure YunÚs, Vers 16, Sure HÚd, Vers 51, Sure YÚsuf Vers 2, Sure al-AmbiyÁ’, Vers 67, Sure al-Mu’minÚn, Vers 80, Sure al-QaÈÁÈ, Vers 60, Sure YÁ SÍn, Vers 62 und Sure aÈ-ÆaffÁt, Vers 138. Mehr als zehnmal wird da erwähnt, dass die wichtigste mit der Erweckung des Propheten und der Herabsendung der göttlichen Offenbarung verbundene Aufgabe darin besteht, dass die Menschen aufgerufen und motiviert werden, von ihrer Vernunft Gebrauch zu machen und rational zu denken. Deshalb sehen wir, dass im Qur’an wiederholt die Darstellung von klaren und aussagekräftigen Zeichen der Wahrheit verbunden wird mit der Hoffnung, dass der Mensch über diese Zeichen nachdenkt, wie z. B. in Sure al-Baqara, Verse 73 und 242, Sure al-AnþÁm, Vers 151, Sure YusÚf, Vers 2, Sure an-NÚr, Vers 61, Sure ³Áfir, Vers 67, Sure az-Zu¿ruf, Vers 3 oder Sure al-¼adÍd, Vers 17.
Der Qur’an hebt die der göttlichen Botschaft inhärente Rationalität und Argumentation hervor, indem er wiederholt deutlich macht, dass in dieser Botschaft klare und deutliche Zeichen für diejenigen sind, die von ihrem Verstand Gebrauch machen, so beispielsweise in Sure al-Baqara, Vers 164, Sure ar-Raþd, Vers 4, Sure an-Na½l Verse 12 und 67, Sure al-þAnkabÚt, Vers 35, Sure ar-RÚm, Verse 24 und 28 und Sure al-¹ÁÝiya, Vers 5. Deshalb ist es eine unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz der göttlichen Zeichen und Offenbarungsbotschaft, dass man fern von jeglicher Emotionalität und allen Kräften, die die Ratio bekämpfen, und fern von jeder Art der blinden Nachahmung und jeder Art von traditionellem, rassischem und Stammesdenken diese Verse und Botschaft einzig und allein mit der Motivation der Wahrheitssuche reflektiert und hört und letztlich auf der Grundlage der Verstandeskraft darüber urteilt. Deshalb erklärt der Qur’an diejenigen zu den schlechtesten Lebewesen, die ihre Augen und Ohren vor der Wahrheit verschließen, d. h. sie wollen die wahren Worte nicht hören und darauf aufmerksam gemacht werden und folglich auch nicht darüber nachdenken. Sure al-AnfÁl, Vers 22 beschreibt, dass die schlechtesten Lebewesen vor Gott diejenigen sind, die die Wahrheit nicht sagen und hören können und nicht darüber nachdenken. Von den genannten Versen können wir ableiten, dass die Religion die Vernunft voraussetzt, weil der Glaube als offenbarte himmlische Lehre vom Menschen mittels der Vernunft wahrgenommen und er letztlich dadurch geleitet wird. Es ist die Vernunft, die über die Wahrheit und Richtigkeit der grundsätzlichen Strukturen der Religion urteilt. Vernunft als Vorrausetzung für Glauben Anders gesagt kann man die religiösen Lehren in zwei Kategorien unterteilen, nämlich erstens die fundamentalen und prinzipiellen Lehren und zweitens die abgeleiteten, sekundären Lehren. Die Grundlehren sind die grundsätzlichen Lehren, die das Fundament des religiösen Denkens ausmachen, d. h. die religiöse Identität und die Richtigkeit bzw. Falschheit der Religiosität basiert auf diesen Überzeugungen und Lehren. Die Hauptprinzipien der Einzigkeit Gottes, Tau½Íd, des Prophetentums und der Auferstehung und des Jenseits sind die wichtigsten grundsätzlichen Lehren der Religion. Es gibt aber auch andere Lehren und Überzeugungen in der Religion, die im Vergleich mit den zuvor genannten von zweitrangiger Bedeutung sind und die sich mit speziellen und kleineren Angelegenheiten des Menschen im Leben befassen, z. B. wie man mit den anderen Menschen umgehen soll, welche Strukturen und Eigenschaften die individuellen und gesellschaftlichen Beziehungen prägen sollen, worin die Verantwortung bei diesen Beziehungen besteht, oder worauf die familiäre Beziehung gründen soll? Diese und ähnliche Beispiele sind als zweitrangige und abgeleitete Lehren anzusehen. Im Unterschied dazu sind grundsätzliche Themen, die z. B. die Schöpfung, die Existenz des Seins und des Menschen und die Beantwortung der Fragen nach Ursprung und Ziel der Schöpfung und welche Elemente dem Menschen und der Welt ihre Identität verleihen, betreffen, in ihrer Wichtigkeit erstrangig und bilden das Gedankenfundament eines jeden Menschen. Der Teil der religiösen Lehren, der sich mit einer solchen Thematik befasst und diese Fragen beantwortet, ist der grundlegende Bereich des religiösen Denkens. Zweifellos hat dieser Teil der religiösen Lehre eine rationale Identität und seine Richtigkeit und Wahrheit basiert auf Vernunft und Rationalität. Man sollte also nicht die Erwartung hegen, die Wahrheit der grundsätzlichen religiösen Lehren mittels Religion und religiöser Quellen beweisen zu können, sondern deutlicher gesagt, sind diese Lehren hundertprozentig rationaler Natur. Man wird von keiner Denkschule oder Philosophie überzeugt werden und diese akzeptieren, solange man ihre Aussagen nicht auf der Grundlage des Verstandes annehmen kann. Gleichermaßen beruht die Akzeptanz der religiösen Grundlagen auf der Erkenntnis der Wahrheit durch die Vernunft und deren Akzeptanz, d. h. Rationalität ist die Basis eines jedem Gedanken wie z. B. auch religiöser Ideen. Deshalb sehen wir, dass die direkten und wichtigsten Ansprechpartner des Qur’an die weisen und vernünftigen Menschen sind. Oftmals wird vom Menschen erwartet, dass er seine Vernunft als Richter für die Unterscheidung zwischen der Richtigkeit und Falschheit grundsätzlicher Lehren gebraucht, und die Propheten haben dies betont und die Menschen dazu eingeladen. Die Vernunft ist eine innerliche Kraft, über die jeder Mensch verfügt und mit deren Hilfe er verschiedene Themen und Phänomene erkennen kann. In Wirklichkeit ist die Vernunft eine Kenntnis- und eine Verstandeskraft, die auf sich selbst basiert, d. h. dem Beweis und der Wahrheit liegt nichts anderes zugrunde, sondern jeglicher Beweis impliziert eine essentielle Vernunft und wird nicht von äußeren Ursachen beeinflusst. Die Richtigkeit und Wirklichkeit der grundsätzlichen Überzeugungen in der Religion basieren auf dieser inneren Kraft, d. h. einer auf sich selbst gründenden Vernunft. Zusammenfassend gesagt sind wir bisher zu dem Ergebnis gelangt, dass zwischen Vernunft und religiösem Glauben kein Widerspruch und keine Gegensätzlichkeit existiert, sondern die Hauptelemente des Glaubens kommen durch Rationalität zustande, und solange das Urteil der Vernunft die Richtigkeit und Wahrheit dieser Elemente nicht bestätigt, kann sich der Glaube nicht ausbilden. Deshalb wurden in den Aussagen des Propheten des Islam (ﺺ) und anderer religiöser Führer im Islam die Bedeutung der Vernunft und die Beziehung von Vernunft und Glauben stets besonders hervorgehoben, wie die nachfolgenden Beispiele deutlich machen:· Glaube resultiert aus Vernunft.· Jemand, der keine Vernunft besitzt, kann auch kein Gläubiger sein.· Der Klügere hat mehr Kenntnis von Gott. Letztlich wurde der religiöse Glaube von den islamischen Autoritäten in aller Deutlichkeit so definiert:
Glaube ist nichts anderes als rationale Erkenntnis. Aber abgesehen von der grundsätzlichen Wahrnehmung soll man sehen, in welchem Verhältnis die abgeleiteten und zweitrangigen Erkenntnisse und Lehren zur Vernunft stehen. Ist die Vernunft das Maß für die Richtigkeit und Wahrheit der grundsätzlichen Wahrnehmungen? Soll die Richtigkeit der abgeleiteten und sekundären Lehren und Wahrnehmungen gleichfalls mit dem Maßstab der Vernunft gemessen werden oder soll in diesem Zusammenhang die Religiosität betont werden? Mit diesen Fragen wollen wir uns in der nächsten Freitagsansprache beschäftigen. Abschließend möchte ich den gestrigen Tag der Himmelfahrt Jesu, der für unsere christlichen Geschwister eine wichtige Bedeutung hat, würdigen und allen Christen in ihrem spirituellen Fortschreiten viel Erfolg wünschen. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.