Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In den letzten Freitagsansprachen habe ich im Hinblick auf die Grenzen der gesellschaftlichen Freiheiten über die Beziehung und Zusammenarbeit des Individuums mit der Gesellschaft und seine Verantwortungen gegenüber seiner Gesellschaft gesprochen. Diese Gedanken möchte ich heute weiter ausführen. Die Beziehung des Menschen zu seiner Gesellschaft wird von drei wesentlichen Faktoren definiert:1. Freiheiten von Individuum und Gesellschaft bei der Wahl von Handlungen und Verhaltensweisen.2. Trennung von privatem und öffentlichem Leben.3. Differenzierung zwischen dem Wahren und dem Legitimen.Mit dem ersten Grundprinzip, der Betonung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten, wird verdeutlicht, dass alles gute und schlechte Verhalten erst dann beurteilt werden kann, wenn es aus freiem Willen geschieht, d. h. aus den entsprechenden Freiheiten resultiert die Verantwortlichkeit für die Handlungen von Individuum und Gesellschaft. Wer zu einer guten bzw. schlechten Tat gezwungen wird, verdient keine Belohnung bzw. Bestrafung. Der Islam vertritt das rationale Prinzip, dass freier Wille und Entscheidungsfreiheit der Verantwortung zugrunde liegen; folglich entbehrt jedes auf Zwang und Unterdrückung basierende despotische Verhalten aller moralischen und ethischen Werte. Eine Handlung ist nur dann ethisch, wenn sie bewusst und aus freiem Willen verrichtet wird. Der Wert sowohl einer ethischen wie auch einer religiösen Tat beruht folglich darauf, dass der moralische und religiöse Mensch diese mit vollem Bewusstsein und aus freiem Willen ausführt. Jedes Individuum hat das Recht, sein privates Leben selbst zu bestimmen, und niemand darf sich in diesen Bereich einmischen. Die Verletzung der Privatsphäre kommt einer Aufhebung des individuellen Rechts auf Freiheit gleich. Entsprechend muss auch auf gesellschaftlicher Ebene alles Handeln auf dem Einverständnis der Mehrheit der Bevölkerung basieren, und niemandem steht es zu, der Gesellschaft seine persönlichen Überzeugungen aufzuzwingen, selbst wenn es sich hierbei um die tugendhaftesten und besten ethischen und religiösen Normen handelt, denn jegliche Aufoktroyierung impliziert den Verlust des ethischen und religiösen Wertes.Ebenso wie der Einzelne seinen persönlichen Bereich bestimmen kann, hat auch die Gesellschaft das Recht, die Art ihres Zusammenlebens zu wählen. Hier tritt die Trennung von privatem und öffentlichem Bereich in Kraft. Den islamischen Grundsätzen zufolge darf jedes Individuum nur über sein eigenes persönliches und privates Leben entscheiden, während die Entscheidung über die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens bei der Mehrheit liegt. Keine Minderheit darf der Mehrheit etwas aufzwingen; die Minderheiten gleichen den Individuen, d. h. sie dürfen nur für sich selbst und ihre Angelegenheiten entscheiden. Den Willen der Mehrheit zu missachten oder zu verletzen ist unzulässig und ungesetzlich, auch wenn diese Minderheit von der Richtigkeit und Korrektheit ihrer Meinung überzeugt ist. Der Islam lehrt uns, dass niemand das Recht hat, unter Berufung auf die Wahrheit die Willensfreiheit eines anderen einzuschränken.Der Islam lehrt uns ungeachtet seines Wahrheitsanspruches und seiner Rationalität, dass wir selbst eine Gesellschaft mit säkularen und areligösen Ansprüchen respektieren müssen und einer solchen Gesellschaft Religion und religiöse Gebote nicht aufgezwungen werden dürfen.Hier haben wir es nun mit dem dritten der zuvor genannten Prinzipien zu tun, nämlich der Unterscheidung zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch und der Gesetzgebung. Aus islamischer Sicht muss respektiert werden, wenn ein Individuum oder die Mehrheit einer Gesellschaft nicht nach religiösen Grundsätzen leben will, denn die Wahrheit ist beständig und nicht nach individuellen oder gesellschaftlichen Ansichten veränderbar. Obgleich oftmals eine Diskrepanz zwischen der Wahrheit und den Wünschen der Mehrheit besteht, wäre ein erzwungenes Durchsetzen der Wahrheit unrechtmäßig. Hier gilt es die Differenzierung des Islam zwischen dem Wahren und dem Legitimen zu beachten. Der Gültigkeitanspruch des Wahren resultiert aus der erwiesenen Richtigkeit, der das Unwahre, das Falsche (batil) gegenübersteht. Etwas Wahres stimmt gemäß Logik und Realität mit der Wahrheit überein, so wie z. B. unsere Behauptung, dass die Erde um die Sonne kreist, mit der Wahrheit übereinstimmt. Die Meinung von Individuum oder Gesellschaft spielt bei dieser Wahrheit keine Rolle. Galilei war z. B. gezwungen, seinen Thesen abzuschwören, aber die Wahrheit dieser Thesen blieb bestehen. Trotzdem kann keine Religion, auch wenn sie den höchsten Grad an Wahrheit erreicht hat, mit Zwang durchgesetzt werden. Religiöse Gebote können nur dann als Gesetze formuliert werden, wenn die Mehrheit der Gesellschaft sich demokratisch dafür entschieden hat; ohne diesen demokratischen Konsens können selbst die Gebote der Scharia nicht als Gesetz angesehen und realisiert werden.Dies verdeutlicht, dass die Religion der Demokratie nicht konträr gegenübersteht, sondern dass sie vielmehr die konkrete Umsetzung der demokratischen Werte intendiert. Der Islam nutzt bei der Gestaltung der Gesellschaft nur demokratische Methoden und lehnt undemokratische Vorgehensweisen strikt ab; diktatorische Zwangsmaßnahmen sind „unislamisch“. Auch auf anderer Ebene stimmt der Islam mit der Demokratie überein: Gewohnheitsrecht und menschliche Vernunft sind zwei Hauptquellen bei der Rechtsfindung in gesellschaftlichen Belangen. Einerseits stützt sich der Islam auf den göttlichen Offenbarungen entnommene Grundlagen und Bestimmungen und sieht die Einhaltung ethischer und religiöser Bestimmungen im gesellschaftlichen Handeln als notwendig an, andererseits überlässt er die Festlegung vieler gesellschaftlicher Bestimmungen dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft; in diesem Sinne werden die Gesetze, die eine Gesellschaft aufgrund bestimmter Notwendigkeiten beschließt, bindend, sofern keine Einmischungen in die Privatsphäre der Menschen stattfinden und die persönlichen und religiösen Rechte der Individuen nicht verletzt werden. Gewohnheitsrechte dürfen nicht dazu führen, dass das Individuum seinen religiösen Verpflichtungen nicht nachkommen kann. Der Wert, den der Islam dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft beimisst, führt dazu, dass der Islam ewig und dauerhaft ist und nicht an die engen Grenzen von Zeit und Ort gebunden ist. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass der Islam Demokratie und das Votum der Mehrheit respektiert und fordert, ein Thema, das in Zukunft noch weiter ausgeführt werden soll.Muslime beabsichtigen nicht, in einer Gesellschaft mit einer nichtmuslimischen Mehrheit einen „Staat im Staat“ zu bilden und die Bestimmungen dieses Staates zu missachten. Nach Ansicht vieler Theoretiker der Demokratie impliziert die Herrschaft der Mehrheit keine „Diktatur der Mehrheit“, in der die Rechte von Minderheiten missachtet und mit Füßen getreten werden dürfen. Einer der wichtigsten demokratischen Grundsätze besteht in der Wahrung der Rechte der Minderheiten und deren Praktizierung. Wer Minderheiten als Gefahr ansieht, irrt und entfernt sich weit von demokratischen Prinzipien. Die Präsenz von Minderheiten stärkt und festigt die demokratischen Grundlagen einer Gesellschaft. Historische Erfahrungen verschiedener Gesellschaften, auch der deutschen, zeigen, dass die Unterdrückung von Minderheiten und die Missachtung ihrer Rechte nur Diktatur und Faschismus mit sich bringt. Solche Diktaturen missachten nach einiger Zeit die Rechte aller Menschen, die der Minderheiten und die der Mehrheit. Die Bevölkerung und die Politiker in Deutschland werden sicherlich nicht zulassen, dass sich diese bitteren historischen Erfahrungen aufgrund falscher Propaganda wiederholen.