Hojjatoleslam Dr. Seyyed Mohammad Nasser Taghavi
Toleranz in den himmlischen Religionen (Teil 6)
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
Lobpreis sei Gott, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Ich rate mir selbst und Ihnen zu Frömmigkeit und Gottesfurcht.
Frömmigkeit und Güte gegenüber den Eltern
Als Gott, der Erhabene, in der gesegneten Sure Maryam über Seinen Propheten Yahya (a.s.) spricht, ist von der Gnade und Liebe die Rede, die Gott Yahya (a.s.) gewährt hat:
Und Wir verliehen ihm) ein liebevolles Gemüt von Uns und Reinheit. Und er war fromm und ehrerbietig gegen seine Eltern. Und er war nicht hochfahrend, trotzig. (Sure Maryam, Verse 13 und 14).
Yahya (a.s.) war also nicht nur fromm und gottesfürchtig, sondern er begegnete seinen Eltern mit Güte und war kein hochmütiger Tyrann oder sündiger Mensch. Gott macht in diesem Vers deutlich, dass Güte und Edelmut gegenüber den Eltern ein Kennzeichen eines gottesfürchtigen Menschen ist. Die Gottesfurcht ist unmittelbar verbunden mit der Dienerschaft Gott gegenüber, und diese hängt wieder-um mit dem gütigen Verständnis für Vater und Mutter zusammen. Das Verhalten gegenüber den Eltern gehört demnach zu den wesentlichen Eigenschaften eines gottesfürchtigen Menschen. Wenn also je-mand seine Ergebenheit Gott gegenüber sehr entwickelt hat, sich seinen Eltern gegenüber aber nicht gut verhält, dann werden dessen Gottesdienerschaft und Gottergebenheit auch nicht viel Wert haben. Deshalb stellt der Qur’an in Sure al-IsrÁ’, Vers 23, fest:
„Und dein Herr hat geboten: ‚Verehrt keinen außer Ihm, und (erweist) den Eltern Güte…“
Etliche Verse im Heiligen Qur’an erklären die Bedeutung der Güte gegenüber den Eltern ausführlich, wie z. B. in Sure al-Baqara, Sure al-A½qÁf, Sure IbrÁhÍm, Sure an-NisÁ’ oder auch Sure al-AnþÁm. In den Versen 23 und 24 der Sure al-IsrÁ’ heißt es z. B. weiter:
„..Wenn ein Elternteil oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sage dann kein abfälliges Wort zu ihnen und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen in ehrerbietiger Weise und senke für sie in Barmherzigkeit den Fittich der Demut und sprich: ‚Mein Herr, erbarme dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich als Kleines aufgezogen haben.’“
Auch in vielen islamischen Überlieferungen ist von der gütigen Liebenswürdigkeit den Eltern gegen-über und deren Einfluss auf unser eigenes Leben die Rede. Im Bi½Áru-l-’anwÁr gibt es eine sehr an-schauliche Überlieferung von Imam Gaþfar aÈ-ÆÁdiq (a.s.) dazu.
„Als Jakob (a.s.) seinen Sohn Josef (a.s.) besuchte, stieg Josef (a.s.) nicht von seinem Reittier ab. In diesem Augenblick kam Gabriel zu Josef (a.s.) herab und sprach zu ihm: ‚Öffne deine Hand.’ Da kam ein Licht aus seiner Hand hervor. Gabriel sprach zu ihm: ‚Weil du dich nicht so, wie es sich gebührt, deinem Vater gegenüber verhalten hast, wurde das Licht des Prophetentums von dir ge-nommen.’“ (Bi½Áru-l-’anwÁr, Bd. 12, S. 252).
Ein wichtiger Punkt muss beachtet werden, und zwar dass die liebevolle Güte zu den Eltern nicht auf ihr Leben begrenzt ist, sondern auch nach ihrem Tod weiter praktiziert werden muss. Vom Propheten des Islam (s.a.s.) ist überliefert, dass er sagte:
„Am Tag der Auferstehung ist der Herr der Gütigen derjenige, der seinen Eltern auch nach deren Tod Güte erwiesen hat.“ (Bi½Áru-l-’anwÁr, Bd. 71, S. 86).
Diese Herzlichkeit kann z. B. darin bestehen, dass man Almosen spendet oder den Bedürftigen helfend beisteht, oder dass man den Heiligen Qur’an liest mit der Absicht, die göttliche Belohnung dafür möge den Eltern zukommen, usw. Wenn ein Mensch in seinem Verhalten und seinem ganzen Leben fromm und gütig ist, dann wird am Tag der Auferstehung das nicht nur ihm selbst zum Guten gereichen, son-dern auch seinen Eltern. Möge Gott uns beistehen, dass wir die Rechte unserer Eltern wahren.
Im Hinblick auf den Toleranzbegriff im Heiligen Qur’an haben wir zuletzt die Ausnahmefälle ange-sprochen, die der Islam vorsieht, und wir haben dabei festgestellt, dass diese allgemeine Regel nicht ausgenutzt werden darf in dem Sinne, dass sie ein Mittel in der Hand derjenigen wird, die überhaupt nicht an die Toleranz glauben.
Fortsetzung der Erörterung der Ausnahmem und Grenzen des quranischen Toleranzbegriffes
In einigen Quranversen empfiehlt Gott dem Propheten (s.a.s) im Hinblick auf seine edle Moral, dass er sich von den Ränken und Listen der Menschen nicht beeinflussen lassen soll in dem Sinne, dass er um der Zufriedenheit der Menschen willen etwas anderes erzählt als Gott ihm offenbart hat.
„Und sie hätten dich beinahe in schwere Bedrängnis um dessentwillen gebracht, was Wir dir offen-barten, damit du etwas anderes über Uns erdichten mögest; und dann hätten sie dich gewiss zu ih-rem Freund erklärt. Hätten Wir dich aber nicht gefestigt, dann hättest du dich ihnen ein wenig zu-geneigt.“ (Sure al-Isra, Verse 73 und 74).
Das bedeutet, wenn der Prophet (s.a.s.) nicht gefestigt gewesen wäre, in dem Sinne, dass Gott ihn sün-denfrei gemacht hat, hätte aufgrund seiner Güte und Freundlichkeit zu den Menschen die Möglichkeit bestanden, dass er hätte beeinflusst werden können. Deshalb wird im darauf folgenden Vers unmiss-verständlich festgestellt:
„Doch dann hätten Wir dich das Doppelte im Leben schmecken lassen und das doppelte im Tode; und Du hättest keinen Helfer Uns gegenüber gefunden.“ (Sure al-IsrÁ’, Vers 75).
Diese Verse zeigen eine wichtige Ausnahme im Hinblick auf die Toleranz aus, die auch in anderen Qur’anversen zum Ausdruck kommt, und zwar dass die Grenze der Toleranz da erreicht ist, wo die Gefahr besteht, dass die Grundlage der religiöse Werte geschwächt wird. Deshalb wird dem Propheten gesagt, dass er standhaft und bestimmt sein soll, wenn z. B. scheinheilige Muslime, Heuchler oder auch Nichtmuslime ihm etwas einflüstern und ihn bei seiner Pflicht der Weitergabe der Offenbarung schwächen wollen. Diese Verse gelten gleichermaßen auch für jeden von uns, d. h. auch uns wird nahe gelegt, dass unsere Toleranz ebenfalls Ausnahmen haben kann. So empfiehlt uns Gott z. B., dass wir mit denjenigen, die ungerecht sind, keine Freundschaft pflegen sollen und ihnen gegenüber nicht tole-rant sein sollen, weil unsere Toleranz ihnen den Weg ebnen würde:
„Und neigt euch nicht zu den Ungerechten, damit euch das Feuer nicht erfasse. Und ihr werdet keine Beschützer außer Gott haben, noch wird euch geholfen werden.“ (Sure HÚd, Vers 113).
Gott weist Seinen Propheten darauf hin, dass es Heuchler oder Ungläubige gibt, die versuchen, ihn durch Schmeicheleien zu beeinflussen und seine Toleranz auszunützen, dass sie aber nur lügen und die Offenbarung leugnen:
„Darum richte Dich nicht nach den Wünschen der Leugner. Sie wünschen, dass du dich (ihnen gegenüber) entgegenkommend verhältst, dann würden (auch) sie sich (dir gegenüber) entgegen-kommend verhalten. Und füge dich nicht irgendeinem verächtlichen Schwüremacher.“ (Sure al-Qalam, Verse 8-10).
Tatsächlich ist der Ausnahmefall für die Toleranz aus quranischer Sicht dann gegeben, wenn Ent-schiedenheit gegenüber Abweichungen von der Wahrheit und Widerstand gegen diejenigen, die den Zustand des freien Denkens und Bewusstseins und der freien Entscheidung beseitigen wollen, gegeben ist. Das bedeutet Bestimmtheit und Unbeugsamkeit gegenüber denjenigen, die praktisch nicht nur ge-gen Muslime, sondern gegen alle gläubigen Menschen intrigieren und nicht zulassen, dass die Men-schen frei und nach ihrer eigenen Überzeugung glauben, und Härte gegenüber denjenigen, die das all-gemeine Wohlergehen der Gesellschaft gefährden. Gegenüber solchen Menschen, die diese Grundre-gel der Toleranz schwächen und ausnutzen wollen, empfiehlt der Heilige Quran Standhaftigkeit:
„…und lasset sie euch hart vorfinden…“ (Sure at-Tauba, Vers 123).
Weiter verweist diese Sure auf das heuchlerische Verhalten derjenigen, die, wenn Verse offenbart wer-
werden, lächelnd fragen, wer aufgrund dieser Sure gläubiger geworden sei?
Die wahren Gläubigen jedoch freuen sich über die Worte Gottes, sie werden dadurch in ihrem Glauben bestärkt, während im Unterschied dazu diejenigen, deren Herzen nicht rein, sondern krank sind, sich selber noch mehr schaden und ihren Unglauben mehren. (Vgl. Sure at-Tauba, Verse 124 und 125). Gott weist den Propheten (s.a.s.) an, dass er gegenüber dieser Gruppe von Heuchlern und Ungläubigen hart und entschieden auftreten muss, wie in Sure at-Ta½rÍm, Vers 9, geschrieben steht. Deshalb emp-fiehlt der Heilige Qur’an, dass man solchen Menschen mit Entschiedenheit begegnet, weil sie die At-mosphäre der freien Entscheidung mit Gewalt zerstören wollen. Die Güte und Freundlichkeit des Pro-pheten des Islam (s.a.s.) wird von diesen Menschen ausgenutzt, und Toleranz diesem Verhalten ge-genüber würde die Atmosphäre für ein Leben in Freiheit und Wahrheit zerstören. Es wäre sehr naiv und einfältig, wollte man diese Ausnahme zu einem Grundsatz einer Heiligen Schrift erklären und eine solche Ausnahme als eine Grundregel missverstehen. Der Heilige Qur’an ist vielmehr ein Buch der Gnade und zeigt allen Menschen den Weg zur Glückseligkeit.
„Gott will euch die Wege derer klar machen, die vor euch waren, und euch dahin leiten und sich in Gnade zu euch kehren. Und Gott ist allwissend, allweise“. (Sure an-NisÁ’, Vers 26).
„…Also vergib ihnen und wende Dich (von ihnen) ab. Wahrlich, Gott liebt jene, die Gutes tun. (Su-re al-MÁ’ida, Vers 13).
„…Wehre (das Böse) in bester Art ab, und siehe da, der, zwischen dem und dir Feindschaft herrschte, wird wie ein treuer Freund sein.“ (Sure Fussilat, Vers 34).
„…und die das Böse durch das Gute abwehren…“ (Sure ar-Raþd, Vers 22).
Es ist ein Quran, der das letzte Geschenk und die letzte Offenbarung Gottes ist, und der alle Gläubi-gen und die himmlischen Religionen verbindet, und der Qur’an selbst betont, dass diese gerechte Bot-schaft sowohl in der Thora und dem Evangelium wie auch im Qur’an steht:
„Und Wir senden vom Quran das hinab, was eine Heilung und Barmherzigkeit für die Gläubigen ist…“ (Sure al-IsrÁ’, Vers 82).
Die einzige passende Antwort auf ein wie zuvor erwähntes falsches Verhalten gibt der Qur’an selbst:
„Sie wollen Gottes Licht mit ihren Mündern auslöschen, doch Gott wird Sein Licht vollenden, auch wenn die Verdecker und Leugner der Wahrheit es nicht wünschen.“ (Sure aÈ-Æaff, Vers 8).
Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.