Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Der gesegnete Monat Ramadan ist zu Ende gegangen, und heute feiern wir. Ich gratuliere Ihnen zu diesem großen Fest. Der Monat Ramadan ist nicht nur eine besondere Zeit der Anbetung, Gottesverehrung, des Fastens und Qur’anlesens, sondern er ist auch eine Schule für die Selbstbildung. Im Ramadan hat Gott eine spezielle Atmosphäre und Gelegenheit für den Menschen geschaffen, damit er mit Hilfe der besonderen spirituellen Möglichkeiten dieses Monats fortschreiten, sich vervollkommnen und seine menschlichen Eigenschaften realisieren kann. Gott Selbst hat grundsätzlich keinen Nutzen von unseren Gebeten, sondern die Gebete helfen uns, die menschliche Vollkommenheit zu erlangen. Der Prophet des Islam (s.a.s.) hat zu Beginn des gesegneten Monats Ramadan eine Ansprache gehalten, in der er über die besonderen Eigenschaften dieses Monats gesprochen und die vielen Möglichkeiten dieses Monats im Hinblick auf die Spiritualität erwähnt hat. Abgesehen von den bekannten Arten der Gottesanbetung wie Bittgebet oder stille Zwiesprache mit Gott, gilt als bedeutsamste Pflicht in diesem Monat das Erreichen der wichtigsten ethischen und menschlichen Eigenschaften. Ein guter Umgang mit anderen Menschen, Toleranz und Nachsicht gegenüber Mitarbeitern, sich allem zu enthalten, was andere beleidigen könnte, Sorge um Waisen und Unterstützung von Bedürftigen, Wertschätzung älterer Menschen, ein liebevoller Umgang mit Kindern, die Festigung der Beziehungen und Verbindungen innerhalb der Familie, ein freundlicher und höflicher Umgang mit Freunden und anderen Menschen – dies alles ist ein Teil der wichtigsten moralischen Empfehlungen, die der Prophet (s.a.s.) den Muslimen gegeben hat. Er hat sie aufgefordert, in der Schule des Ramadan zu üben und diese Lehren in ihrem Leben und im Laufe der Zeit anzuwenden. Sicherlich liegt die größte Betonung auf dem netten und freundlichen Umgang mit anderen Menschen. Die Tradition, im Monat Ramadan andere Menschen zum Fastenbrechen einzuladen, die der Prophet des Islam hervorgehoben hat, bedeutet nicht, den Bedürftigen wirtschaftlich zu helfen. Deshalb wird dieses Verhalten nicht nur im Hinblick auf die Bedürftigen empfohlen, sondern ist eine allgemeine Empfehlung im Hinblick auf alle Menschen. Diesem Verhalten liegt im Wesentlichen die Philosophie zugrunde, dass die freundliche Beziehung zwischen den Menschen intensiver und fester wird. Der Prophet des Islam hat in seiner Ansprache erwähnt, dass man Essen geben soll, auch wenn es sich nur um ein paar Datteln oder ein Glas Wasser handelt. Hier wird deutlich, dass das Ziel nicht darin besteht, dass die anderen sich satt essen, sondern das Hauptziel ist es, mehr Freundlichkeit zwischen den Menschen zu schaffen. Das ist die wichtigste Lehre der „Schule des Ramadan“, und wir sollen darum bemüht sein, dieses Verhalten im Laufe unseres Lebens in allen Bereichen zu berücksichtigen.Die wichtigste, höchste und wesentliche Eigenschaft, mit der Gott im Qur’an und in der islamischen Sunna beschrieben wird, ist die Barmherzigkeit, die die besondere Liebe und Freundschaft Gottes gegenüber seinen Geschöpfen zum Ausdruck bringt. „Ra½mat“ ( رحمت ) wird als Barmherzigkeit oder Gnade übersetzt, aber das ist keine genaue Übersetzung. Unter den verschiedenen Eigenschaften Gottes gibt es zahlreiche Eigenschaften, die Seine Freundlichkeit und Zuneigung zu Seinen Dienern beschreiben. Jede von diesen Eigenschaften beschreibt eine besondere Art der Freundlichkeit und Liebe Gottes, z. B die Liebe zu den Sündern, die ihre Sünden bereuen, oder die Liebe zu den Frommen und denjenigen, die ein gutes Verhalten haben und gute Taten tun, oder die Liebe zu den Gläubigen. Aber keine dieser Eigenschaften zählt zu den wichtigsten Eigenschaften Gottes. Die Eigenschaft Gottes, die im Vergleich zu den anderen Eigenschaften ungleich wichtiger ist, ist „ra½mÁn“, ( رحمان ) d. h. eine besondere Art von Freundlichkeit und Liebe, die so tief und umfassend ist, dass Gott niemals die Besonderheiten seiner Geschöpfe außer Acht lässt, und dies betrifft bedingungslos alle Menschen, ob sie an Gott glauben oder nicht, Sünder sind oder nicht. RahmÁn ist der einzige Name im Qur’an, der „Allah“ ersetzen kann[1] und am Anfang jeder Sure genannt wird[2]. Der Islam lehrt den Menschen, dass er Gott niemals ersetzen kann, sondern in jedem Moment Gott braucht. Er kann und soll jedoch der Stellvertreter Gottes auf der Erde sein. Stellvertreter ist derjenige, der von Gott beauftragt ist, an Seiner statt auf der Erde zu schalten und zu walten. Stellvertreter Gottes auf der Erde zu sein bedeutet, dass der Mensch Sein Statthalter ist[3]; d. h. der Mensch soll göttliche Eigenschaften in sich verwirklichen, damit er diese Statthalterschaft verdient. Die bedingungslose Liebe und Freundlichkeit zu allen Menschen ist eine Eigenschaft, mit der der Mensch beschrieben wird und die er erreichen kann. Der Heilige Qur’an bestätigt, dass der Prophet des Islam diese besondere Eigenschaft hatte. Er ging mit allen Geschöpfen Gottes liebevoll um, gleich ob es sich um Menschen handelte oder nicht. Diese Zuneigung war so intensiv, dass Gott den Propheten als „Ra½matan lilþÁlamÍn“[4], d. h. als allen Dingen gegenüber liebevoll, bezeichnet hat. Aus islamischer Sicht kann der Mensch eine Stufe der Vollkommenheit erreichen, auf der er sich von seinem begrenzten „Ich“ und seinen Beschränkungen befreit. Diese Beschränkungen und Abhängigkeiten trennen ihn von den anderen Menschen. Es bildet sich eine neue Beziehung zwischen „du und ich“ oder „er und ich“ oder „andere und ich“. Diese Befreiung vom begrenzten Ich gibt dem Menschen ein Gefühl der Nähe zu den anderen, ermöglicht es ihm, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mit ihnen Freud oder Leid zu teilen. In diesem Fall sieht er die anderen Menschen nicht mehr aus dem Blickwinkel seiner Begrenztheit, sondern mit dem Auge Gottes; er wird seine Liebe zu den anderen Menschen nicht begrenzt sehen, sondern weil sie Gottes Geschöpfe sind, ist er freundlich und nett zu ihnen.[5] Aufgrund dieser Wahrnehmung beschreibt der Prophet Gottes die bedürftigsten Menschen als Familie und Angehörige Gottes, und im Dienst des Menschen zu sein, bedeutet im Dienst Gottes zu sein. Der Qur’an beschreibt in Sure al-¼aÊr, Vers 9, die Eigenschaft der Bevorzugung der anderen vor sich selbst als eine Eigenschaft der Frommen und Gläubigen: „…sie sehen die anderen vor ihnen selbst bevorzugt, auch wenn sie selbst in Dürftigkeit leben…“ Diese Eigenschaft erreicht man, wenn man sich von seinem begrenzten Ich befreit. Ja, die Schule des Ramadan lehrt uns, dass wir anderen Menschen gegenüber liebevoll und freundlich sein sollen, und mit dem Fest des Fastenbrechens feiern wir diesen Erfolg. Unsere Gemeinschaft macht deutlich, dass kein Abstand zwischen „du und ich“, „er und ich“ oder auch „uns“ vorhanden ist. Der Schmerz und das Leid eines jeden Einzelnen ist der Schmerz und das Leid aller Menschen, und meine Ruhe und Sicherheit ist die Ruhe und Sicherheit aller. Die Anwesenheit der vielen Menschen unterschiedlicher Nationalität, Sprache, Interessen und Gedanken beim Gemeinschaftsgebet am Festtag des Fastenbrechens hat eine solche Botschaft. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.
[1]Sprich: ‚Ruft Allah an oder ruft den Allerbarmer an…’“ (Sure al-IsrÁ’, Vers 110).[2] Alle 114 Suren des Heiligen Qur’an beginnen mit einer Ausnahme (at-tauba) mit „Bismi-llahi-r-rahmani-r-rahÍm“, wobei die Eigenschaft „Rahman“ unmittelbar auf „Allah“ folgt.[3] In der deutschen Sprache wurden für „KhalÍfa“ verschiedene Begriffe benutzt, die – wie in vielen anderen Fällen – die genaue Bedeutung des Begriffes, wie er im Qur’an verwendet wird, nicht wiedergeben. Dazu gehören z. B. „Statthalter“, was dem qur’anischen Begriff nicht entspricht und diesen nicht richtig wiedergibt; „Nachfolge“, d. h. eine Person, die z. B. in einem Amt auf eine andere folgt. Gleichzeitig enthält dieser Begriff eine Zeitlichkeit, während diese in Bezug auf den Menschen und Gott keine Bedeutung hat; „Ersatz“ im Sinne von den Platz von etwas anderem oder einer anderen Person einnehmen, wie wenn man z. B. einen Teil einer Maschine ersetzt, was im Hinblick auf Gott unmöglich ist. „¾alÍfa“ hat in der qur’anischen Sprache die Bedeutung von Statthalterschaft und Stellvertretung von Seiten Gottes. Indem Gott den Menschen als „KhalÍf“ bezeichnet, bringt er die besondere und ausgezeichnete Stellung des Menschen im Diesseits zum Ausdruck. (Mufradat al-Qur’an, Rghib al-Isfahani, S. 157).Aber wie bereits gesagt wurde, muss der „Khalifa“ zunächst die Eigenschaften dessen, den er vertritt, verinnerlichen können, d. h. ihm ähnlich werden.Über diese Bedeutung hinaus, die in dem Text erwähnt wurde, kann der Begriff „Nachfolger“ im Deutschen eine angemessene Übersetzung für „Khalifa“ sein. In der deutschen Ausgabe der Bibel wird dieser Ausdruck in der Bedeutung von „nachfolgen“ und „ähnlich werden“ verwendet, wo Jesus (a.s.) spricht: „…Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8,12).Der bekannte christliche Gnostiker Thomas von Kempen hat in seinem Buch „Nachfolge Christi“ diesen Begriff ebenfalls gebraucht. Wenn wir diese Bedeutung von Nachfolger bedenken, wird uns dies den qur’anischen Begriff „¾alÍfa“ besser verstehen lassen, denn auch aus der Sicht des Qur’an muss der „Khalifa” vor allem anderen Gott nachfolgen und Seinen Eigenschaften ähnlich werden. Aus diesem Grund erscheinen uns die beiden im Text gebrauchten Begriffe von allen gebrauchten Wörtern und Begriffen am ehesten passend, wenngleich auch sie die exakte Bedeutung des qur’anischen Begriffes „KhalÍfa“ nicht wiedergeben.[4] „Und Wir entsandten dich (Muhammad) nur aus Barmherzigkeit für alle Welten.“ (Sure al-Anbiya, Vers 107).[5] Es gilt, zu beachten, dass die Freundlichkeit des gläubigen und rechtschaffenen Menschen aus islamischer Sicht nicht nur auf die anderen Menschen bezogen ist, sondern vielmehr auf alle Geschöpfe (Tiere, Pflanzen und die ganze Natur) und jede Art, sie zu quälen oder auszunützen, ist verboten.