Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.In der letzten Freitagsansprache haben wir über die Beziehung von Vernunft und Glauben gesprochen. Um den Gebrauch und die Wirkung der Vernunft im religiösen Bereich klar aufzuzeigen und zu interpretieren, haben wir den religiösen Glauben in zwei allgemeine Kategorien unterteilt, nämlich erstens die fundamentalen und prinzipiellen Lehren und zweitens die abgeleiteten und sekundären Lehren. Im Hinblick auf die fundamentalen Lehren haben wir gesagt, dass der Maßstab zur Unterscheidung der Richtigkeit dieser Lehren absolut auf der Vernunft selbst basiert; d. h. die Richtigkeit der Behauptungen, dass beispielsweise Gott existiert, dass die Propheten von Gott entsandt wurden, oder dass es nach dieser materiellen Welt eine andere Welt gibt, kann man niemals mit religiösen Lehren, den Aussagen der Propheten oder der göttlichen Offenbarung argumentativ belegen. Man kann nicht sagen, dass ein Gott existiert, weil die Propheten dies behauptet haben. Eine solche Argumentation wäre religiös, während im Hinblick auf die fundamentalen Lehren einzig und allein mit Rationalität und Vernunft argumentiert werden soll. Deshalb haben wir in Übereinstimmung mit den Aussagen des Propheten des Islam und anderer islamischer Persönlichkeiten gesagt, dass die Vernunft die Voraussetzung für Glauben ist, und die fundamentalen Lehren der Religion sind das Resultat von Rationalität und Vernunft. Die Funktion der Vernunft bei den abgeleiteten religiösen LehrenIn dieser Ansprache wollen wir uns mit der Funktion der Vernunft bei den abgeleiteten Lehren, d. h. den Lehren, die zur zweiten Kategorie gehören, beschäftigen. Mit den abgeleiteten (nicht grundlegenden) Lehren meinen wir die Lehren und Überzeugungen, die im Glauben und der Lehre des Menschen hinsichtlich des Lebens von sekundärer Bedeutung sind. Diese Lehren sind deshalb zweitrangig, weil die fundamentalen Lehren, die wir normalerweise als Hauptprinzipien der Weltanschauung bezeichnen, wie z. B. der Glaube an Gott, das Prophetentum und das Jenseits, die grundlegenden Lehren sind, die im wesentlichen die Weltanschauung des Menschen bilden.
Und alle anderen Gedanken und das Verhalten des Menschen werden von diesen fundamentalen Lehren beeinflusst und gebildet. Das heißt letztlich, dass die abgeleiteten Lehren von den fundamentalen Lehren abhängig sind. Folglich können wir die Beziehung zwischen den grundlegenden und den abgeleiteten Lehren ein bisschen besser, wenngleich nicht genau, verstehen. Im weiteren Verlauf dieser Ansprache werde ich erläutern, warum ich von einem nicht genauen, sondern einem ungefähren Verständnis spreche. Ohne Zweifel haben die fundamentalen Überzeugungen eines jeden Menschen, gleich welcher Art sie sind, ob dieser Glaube religiös oder nicht religiös ist, großen Einfluss auf sein Leben und seine Interpretation von den Phänomenen der Welt und den Ereignissen des Lebens. Aus diesem Grund kann man aus der Tatsache, wie ein Mensch lebt und wie er seine Entscheidungen trifft, auf seinen Glauben und seine Einstellung Rückschlüsse ziehen. (In den nächsten Freitagsansprachen werde ich dies weiter ausführen). Hier kann man zu diesem Ergebnis gelangen, dass zumindest ein Teil der abgeleiteten Lehren des Menschen religiös sind, d. h. die Quelle der Rechtfertigung dieses Glaubens sind die fundamentalen Lehren. Rechtfertigungen sind die Gründe und Argumentationen, die die Richtigkeit von etwas beweisen und die den Menschen von der Richtigkeit dieser Sache überzeugt sein lassen. Es wurde deutlich, dass Rationalität und Vernunft des Menschen die Quelle der Rechtfertigung der fundamentalen Lehren sind. Ein Teil der abgeleiteten, also zur zweiten Kategorie gehörigen Überzeugungen erhalten ihre Rechtfertigung durch fundamentale Lehren. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise die Gebetsvorschriften in allen Religionen. Beten und Fasten und wie man betet und wie man fastet, sind Gebote, von denen man nicht erwarten kann, dass die Begründung dafür direkt und ohne die Vernunft herauskristallisierbar und interpretierbar ist. Bei jeder rationalen Auseinandersetzung damit muss man auf die Rechtfertigung dieser religiösen Zeremonie achten. Einem Gläubigen, der die Existenz des vom Islam und vom Qur’an vorgestellten Gottes mittels seiner Vernunft akzeptiert hat, und mittels einer rationalen und vernünftigen Methode das Prophetentum von Muhammad ibn Abdullah anerkannt hat, wird seine Vernunft nicht erlauben, die Art und Weise, wie der Prophet gebetet hat und das Gebet gelehrt hat, in Frage zu stellen. Die Vernunft lässt vor dem Glauben jede Kritik und Frage zu; wenn der Mensch jedoch auf der Grundlage von gänzlich rationalen Methoden von der Richtigkeit der Behauptung des Propheten überzeugt ist, wird ihm seine Vernunft gebieten, die Aussagen des Propheten über die Art und Weise, wie man betet und wie man die Zufriedenheit Gottes erlangen kann, zu akzeptieren. Grundsätzlich kann die Vernunft kein bestimmtes Urteil über das Wesen des Gebetes abgeben. Die Vernunft kann dem Menschen letztlich sagen, dass er die Zufriedenheit vom Schöpfer erlangen und er Ihn anbeten soll, wie diese Zufriedenheit letztlich aber erlangt wird, das kann nur Gott selbst bestimmen. Man kann nicht erwarten, dass die Vernunft alle Geheimnisse des Gebetes erkennt, sondern die in vielen Gebeten verborgene Weisheit und der Anlass dafür ist den Menschen verborgen, und wir sollen das tun, weil Gott dies von uns verlangt, und darin manifestiert sich die vollkommene Dienerschaft und der Glaube an das Verborgene. Wir sehen also, dass diese Religiosität von einer rationalen und vernünftigen Argumentation getragen wird. Nachdem die Vernunft die Existenz Gottes und die Notwendigkeit Seiner Anbetung akzeptiert, und Seine Gesandten bestätigt, gelangt der Mensch zu der Überzeugung, dass er Ihn anbeten soll. Die Religiosität findet in der Anbetung und dem Beten eine gewisse Bedeutung. Ebenso wie einem Menschen mittels einer vollkommenen rationalen Methode und aufgrund der Berücksichtigung aller rationalen Maßstäbe zu der Erkenntnis gelangt, dass ein Arzt über fundierte wissenschaftliche Kenntnis verfügt und folglich dessen medizinischen Empfehlungen folgt. Der Mensch hat das Recht, darüber zu urteilen, ob ein Arzt fundierte medizinische Kenntnis hat und anwendet, und nachdem ihm klar wird, dass jener über diese medizinische Qualifikation verfügt, soll er im Hinblick auf seine Heilungsmethode keine Zweifel hegen. Wenn man die Methode der Heilung jedoch in Frage stellt ist, so ist das ein Zeichen dafür, dass man die fundierte medizinische Expertise dieses Arztes nicht akzeptiert. Die Anbetung bringt die Demut und Abhängigkeit des Menschen gegenüber einem heiligen Schöpfer zum Ausdruck und zwar mit der Absicht, zu Spiritualität, Zufriedenheit und Rettung zu gelangen. Deshalb hat das Gebet ein geheimnisvolles und verborgenes Wesen. Mit Geheimnis meinen wir nichts Kompliziertes oder Märchenhaftes, sondern das Geheimnis des Gebetes bedeutet, dass wir wissen, dass diese Bewegungen und besonderen Handlungen ein Maßstab für bestimmte spirituelle und innerliche Ergebnisse des Menschen sind. Aber das Verstehen und Erkennen von vielen dieser Maßstäbe ist dem allgemeinen Verständnis des Menschen fremd, und nur ein höheres Wesen, d. h. Gott selbst, weiß darüber Bescheid. Aus diesem Grund hat er uns zu diesen Gebeten aufgerufen, damit wir aus der Wirkung und dem Ergebnis des Gebetes auf und für uns Nutzen ziehen können. Es sei an dieser Stelle kurz erwähnt, dass die abgeleiteten religiösen Lehren, die zur zweiten Kategorie gehören, im Hinblick auf die Rechtfertigung der Rationalität in verschiedene Kategorien unterteilt werden. Das Ergebnis und die Wirkung von einigen dieser Lehren kann man im diesseitigen Leben erleben. Wenn im Qur’an gesagt wird, dass die Seelen im Gedenken Allahs Ruhe finden, ist diese Ruhe im Zusammenhang mit dem Glauben des frommen Menschen zu sehen. Auch in anderen Fällen haben verschiedene Formen der religiösen Erfahrung, die aus besonderen religiösen Zeremonien resultieren, für die Gläubigen bestimmte Wirkungen und Ergebnisse. Es gibt einen Teil von abgeleiteten religiösen Lehren, deren Wirkung und Ergebnis im Diesseits nicht beweisbar und erforschbar sind, sondern sie manifestieren sich nach dem diesseitigen Leben, d. h. im Jenseits. Diese Lehren kann man in zwei Gruppen unterteilen: 1. Manche dieser Lehren sind Lehren, die über die abstrakten und metaphysische Verhältnisse mancher Phänomene berichten, wie wenn z. B. im Heiligen Quran erwähnt wird, dass sich ungerecht und ohne die Zustimmung des Besitzers den Besitz von jemandem aneignet, sich dieser Besitz im Jenseits in Feuer verwandeln wird. Oder oft wurde über die schlechten Taten gesprochen, und dass, wenn man diese Taten begeht, die Seele des Menschen davon verschmutzt wird und die Unzufriedenheit und Strafe Gottes nach sich ziehen wird.2. Manche anderen Lehren stehen mit den Ereignissen nach dem Tod und dem jenseitigen Verhalten des Menschen im Zusammenhang, so z. B. wie im Qur’an oft wiederholt wird, dass das Ergebnis der guten Taten der Gläubigen das Paradies ist, genauso wie diejenigen, die schlechte Taten begehen, in die Hölle Eingang finden werden. Im Zusammenhang mit diesen zwei Arten von religiösen Lehren haben wir keine andere Möglichkeit als zu akzeptieren, dass sich diese Dinge im Jenseits ereignen werden. Das bedeutet, wir sollen im Diesseits den Empfehlungen der Lehrer der Religion und der Propheten Glauben schenken und geduldig sein, bis wir am Ende das Ergebnis sehen. Hier ist der Ort, wo man glauben soll; d. h. ein Teil der religiösen Lehren hat keine direkte und unmittelbare Rechtfertigung, sondern gewinnt die Rechtfertigung aus einer äußeren Ursache. Aber das heißt nicht, dass diese Lehren unvernünftig sind, denn die äußere Ursache, die diese Lehren rechtfertigt, wurde vernünftig und rational bewiesen, denn die logische Reihenfolge der Bildung rationaler Lehren besteht darin, dass sie erst durch Argumentation und rationale Schlussfolgerung bewiesen werden. Erst wenn Gott bewiesen ist, wird die Notwendigkeit von Propheten beweisbar, und erst dann wird mittels eindeutiger Argumentation z. B. durch Verweis auf Wunder das Prophetentum von jemandem bewiesen. Danach wird die Vernunft dies auch bestätigen, d. h. man soll den Worten eines solchen Menschen, dessen Prophetentum bezeugt und z. B. mit Wundern belegt ist, und von dem nicht die kleinste Lüge gehört wurde, vertrauen. Dies gilt insbesondere für wichtige Angelegenheiten, d. h. wenn wir diese nicht ernst nehmen und für wichtig halten, wird uns daraus ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstehen. D. h. die Vernunft sagt uns hinsichtlich der wichtigen Angelegenheiten, dass man vorsichtig sein soll, und wenn ein nicht wieder gutzumachender Schaden vermutet wird, muss man das vermeiden. Die Propheten, deren Prophetentum mit klaren und überzeugenden Wundern bewiesen wurde, und an deren Wahrhaftigkeit es keinen Zweifel gibt, berichten uns von wichtigen Dingen, die momentan für uns keine Wirklichkeit darstellen. In einem solchen Fall gebietet uns die Vernunft zweifellos, vorsichtig und behutsam zu sein und den Worten einer solchen Person Glauben zu schenken. Die Vorgehensweise der vernünftigen Menschen im Umgang mit allen wichtigen Angelegenheiten im Leben besteht darin, dass sie bei solchen gefährlichen Dingen niemals ein Risiko eingehen, vor allem wenn die Empfehlungen einer solchen Person mit Themen zusammenhängt, deren fundamentalen Lehren mit der Vernunft beweisbar sind. Das Prinzip des Jenseits ist z. B. ein solches Thema, das mit rationaler Argumentation beweisbar ist. Aber man kann nicht die detaillierten Einzelheiten und die Qualität der Ereignisse in dieser Welt direkt mittels rationaler Argumentation beweisen. Wenn jedoch das Hauptprinzip dieser Angelegenheit mit theoretischer Rationalität beweisbar ist, dann empfiehlt die praktische Rationalität, dass man im Umgang mit dieser Sache vorsichtig sein soll. Die Grundlage für das praktische rationale Urteil in solchen Fällen ist die Erkenntnis, dass nicht alle diese Angelegenheiten erfahrbar sind. Der Überprüfung kann man in den Fällen vertrauen, in denen sie im direkten Zusammenhang mit der Erfahrung steht. D. h. man muss logischerweise erst etwas erfahren, damit man durch die Wirkung und das Ergebnis dieser Erfahrung zu seinem Vorteil oder für die Vermeidung von Schaden Nutzen zieht. Deshalb ist eine Rationalität, die die Erfahrung rechtfertigt, genau die Rationalität des Einbringens und Nutzens, und das ist Basis für viele rationale Verhaltensweisen der vernünftigen Menschen. D. h. durch Erfahrung wird der Erfahrende eine Erkenntnis von Weisheit bekommen, die auf anderen Wegen überhaupt nicht möglich ist. Aber wenn das Thema der Erfahrung nicht erfahrbar oder diese Erfahrung nicht wiederholbar ist, dann wird im besten Fall der Nutzen, den der Erfahrende durch die Erfahrung erlangt, dem erlangbaren Nutzen gleich sein. D. h. in diesem Zusammenhang ist der gewonnene Nutzen bzw. erlittene Verlust aus dieser Erfahrung gleich, und dieser Verlust kann nicht ausgeglichen werden. Wenn diese Angelegenheit auch sehr wichtig ist, wird die Vernunft eine solche Gefahr nicht riskieren und gutheißen, sondern die Beseitigung dieser Gefahr als notwendig und verpflichtend kennzeichnen. Mit anderen Worten: Man darf diesen wichtigen Punkt nicht außer Acht lassen, dass die Bedingung der Überprüfung und der Erfahrung nicht absolut ist, sondern dass der Wert der Erfahrung darin liegt, dass sie uns ein gewisses Bewusstsein und eine Kenntnis vermittelt, dass das Glück und größeren Nutzen und die Beseitigung von Gefahr und Schaden garantiert. Wenn in manchen Fällen die Erfahrung nicht diese Funktion und dieses Ergebnis hat, kann man sie nicht in allen Fällen für nützlich und gültig erklären, sondern man muss in solchen Fällen Behutsamkeit und Vorsicht walten lassen, und diese haben mehr Wert als diese Erfahrung. Imam as-Sadiq (Friede sei mit ihm) hat zu jemandem, der ungläubig war und alles in Frage gestellt hat, gesagt: „Wenn die Versprechungen der Propheten falsch sein sollten, wie du behauptest, so erleiden wir Gläubigen dadurch keinen Schaden. Aber wenn diese Versprechungen richtig sind, hast du einen Schaden erlitten, den du nicht wieder gutmachen kannst.“ Grundsätzlich ist der Glaube an das Verborgene und das Jenseits eine der wichtigsten religiösen Überzeugungen. Obwohl wir erklärt haben, dass sich der Glauben in einem rationalen Prozess manifestiert, geht er mit einer gewissen Prüfung einher, die die Tiefe des Glaubens aufzeigt, und deshalb wird im Heiligen Qur’an der Glaube an das Verborgene häufig als Hauptbedingung des Glaubens bezeichnet. Zu Pfingsten, das an die Gotteshilfe für die Gläubigen und die Ausbreitung der Heiligkeit der Spiritualität auf der Erde erinnert, gratulieren wir allen christlichen Schwestern und Brüdern. Die Botschaft Jesu, nämlich die Verbreitung von Spiritualität und Gerechtigkeit unter den Menschen, die zugleich die Botschaft aller göttlichen Propheten ist, möge mit jedem Tag zunehmen, und die Anhänger der Religionen, insbesondere die Christen und Muslime, die Träger dieser spirituellen Kultur sind, mögen mit zunehmendem Verständnis füreinander diese göttliche Verantwortung erfolgreich fortführen. Der wichtige und wesentliche Schritt für die Integration besteht im gegenseitigen Verständnis und tiefgründigen Gespräch zwischen den Anhängern der abrahamitischen Religionen.