Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Wir befinden uns in der Jahreszeit des Frühlings und des Blühens und Erwachens der Natur. Deshalb habe ich für diese Ansprache dieses Thema gewählt, insbesondere weil der Frühlingsbeginn mit dem großen Fest der Christen, nämlich Ostern, zusammenfällt. Der Heilige Qur’Án hat in unterschiedlichen Fällen je nach Thematik die Menschen mit unterschiedlichen Attributen und Eigenschaften angesprochen. Abgesehen von den besonderen Anreden, mit denen die verschiedenen Menschen und Gruppen angesprochen werden, und in denen die Namen dieser Menschen oder Gruppierungen direkt genannt werden, wird beispielsweise, wenn die Gläubigen allgemein angesprochen werden, der Ausdruck „yÁ ’ayyuha-llaªÍna ÁmanÚ“, d. h. „ o ihr Gläubigen“ gebraucht, oder wenn er den Propheten ansprechen will, gebraucht der Heilige Qur’Án selbstverständlich „yÁ ayyuha-n-nabÍ“, d. h. derjenige, der verkündet oder dem die Offenbarung herabgesandt wurde, oder auch den Ausdruck „yÁ ayyuha-r-rasÚl“, d. h. derjenige, der den Menschen die Botschaft Gottes bringt, der Gesandte Gottes. Aber die allgemeine Botschaft und grundsätzliche Mahnungen des Qur’Án, die an alle Menschen gerichtet ist, geht zumeist mit dem Ausdruck „yÁ ayyuha-n-nÁs“, d. h. „o ihr Menschen“ oder „yÁ ayyha-l-’insan“, d. h. „o Mensch!“ einher. Aber von diesen zwei Ausdrücken abgesehen werden die Menschen in manchen Fällen, wenn der Qur’Án sie allgemein ansprechen will, bestimmte Eigenschaften und Attribute angeführt. In solchen Fällen heißt es im Qur’Án z. B. anstatt „o ihr Menschen“ beispielsweise „o die Gruppe der Verständigen“ (yÁ ’Úlu-l-albÁb ), d. h. es wird die Gruppe der Menschen angesprochen, die Vernunft besitzen, oder auch „yÁ ’Úlu-l-’abÈÁr“, d. h. die Gruppe derjenigen, die die Fähigkeit haben, zu sehen. Worin besteht nun der Unterschied zwischen diesen verschiedenen Arten der Anrede? Die Antwort auf diese Frage bedarf einer langen Diskussion, die über den Rahmen unseres heutigen Themas hinausgeht, aber einführend werde ich mich heute mit der Erklärung der beiden Ausdrücke „’Úlu-l-albÁb“ und „’Úlu-l-’abÈÁr“ begnügen. Diese beiden Begriffe, nämlich Gruppe der Vernünftigen bzw. Sehenden wird oft in Fällen gebraucht, in denen das Verstehen einer bestimmten Botschaft ein größeres Maß an Nachdenken erfordert, so dass man von der äußeren Wahrheit eines Phänomens zu seiner inneren Wahrheit gelangen kann. Das Vergehen von Tag und Nacht, und der Wechsel der Jahreszeiten sind die natürlichen Naturphänomene, die äußerlich natürlich und selbstverständlich erscheinen. Im Hinblick auf diese Phänomene muss man aber mehr als diese äußere Erscheinung wahrnehmen, und deshalb spricht der Qur’Án von diesen natürlichen Ereignissen als Zeichen Gottes, die für jene, die Vernunft besitzen, verborgene Botschaften enthalten. Ein wissender Mensch ist derjenige, der mit Hilfe der Vernunft Kenntnis von den Phänomenen gewinnt, und die wichtigste Eigenschaft der Vernunft ist die Kritik und Herauskristallisierung der Wurzel der Wahrheiten. Der vernünftige Menschen begegnet Phänomenen wie dem Wechsel von Tag und Nacht, dass die Bäume ihr Laub verlieren und wieder neu ergrünen, dass die Natur im Winter abstirbt und im Frühling von Neuem erblüht usw. nicht mit einer oberflächlichen Wahrnehmung. Ein solche oberflächliche und einfache Wahrnehmung bedeutet, dass die Menschen zu dem Ergebnis kommen, dass ein Tag vergangen ist und ein neuer Tag begonnen hat, oder dass eine Jahreszeit vorüber ist und eine neue Jahreszeit angefangen hat, oder dass ein Jahr vom Leben vergangen ist. Der Heilige Qur’Án sagt vielmehr, dass der wissende Mensch die Fähigkeit hat, durch die Oberfläche der Phänomene hindurch in die Tiefe zu schauen, d. h. mit anderen Worten, dass er die Schale aufbrechen und dadurch die Wahrheit des Kernes herauskristallisieren kann. In der Schöpfung der Himmel und der Erde und im Wechsel der Nacht und des Tages liegen Zeichen für die Verständigen, und diese Zeichen sind bedeutungsvoller als es ihre äußere Erscheinung erkennen lässt (vgl. Sure Àl-ImrÁn, Vers 190). Im Unterschied zu vermutenden Menschen können jene, die wissen, die vorhandene objektive Wirklichkeit der natürlichen Phänomene untersuchen und deren geheime und verborgene Dimensionen wahrnehmen; das bedeutet, sie gewinnen eine Kenntnis über die Wahrheit dieser Dinge im Unterschied zu jenen, die mit ihrer subjektiven und vermutenden Einstellung der Wahrheit aus dem Weg gehen und folglich die Wahrheit auch nicht erkennen können. Auch jene, die sich auf ihre Sinneserfahrungen berufen, die z. B. nur durch Sehen die äußerliche Dimension der Wahrheit wahrnehmen, können zwar zu einer Kenntnis und zu einem Urteil gelangen, dem es jedoch an der entsprechenden Tiefe ermangelt. Wenn die göttlichen Religionen und insbesondere der Islam betonen, dass man aus der Natur Lehren ziehen soll, werden die Menschen in Wirklichkeit dazu eingeladen, zu einer vollkommenen und der Wahrheit entsprechenden Kenntnis zu gelangen. Deshalb kann man die Propheten als Begründer des kritischen Realismus bezeichnen. Das Hauptprinzip des kritischen Realismus besteht darin, dass er den Menschen zeigt, dass das, was im Äußeren der Phänomene wahrgenommen wird, nicht die ganze Wahrheit ist. D. h. mit der sinnlichen Wahrnehmung und dem Sehen ist die Arbeit nicht beendet, sondern jedes Phänomen hat eine innere Dimension und jedes natürliche Ereignis hat eine versteckte Botschaft, die einen Teil der Wahrheit dieses Phänomens ausmachen. Erst wenn man in diese geheimen Dimensionen vordringt, kann man die ganze Wahrheit der Phänomene verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass man das Äußere der Phänomene außer Acht lassen soll. Deshalb wird aus qur’Ánischer Sicht das, was in der Welt existiert, als Zeichen (arabisch: ÀyÁt) bezeichnet, ein Begriff, der in der qur’Ánisch-islamischen Kultur eine sehr genaue und tiefe Bedeutung hat. Eine der einfachsten Bedeutungen von ÀyÁt bedeutet „Zeichen“. Aber ich betone nochmals, dass man sich mit der genauen Bedeutung dieses Begriffes genauer beschäftigen muss. Ja, die ganze Welt ist voller Zeichen. Das sind die Zeichen, die man untersuchen muss, damit man die verborgene Botschaft dieser Phänomene herauskristallisieren kann. Obgleich die Wiederbelebung der Natur und das Erblühen der Blumen und Wiesen vom Beginn einer neuen Jahreszeit und eines neuen Abschnittes im Leben des Menschen und der Natur berichten, verweisen sie gleichzeitig auf die Wahrheit, dass die Existenz und das Leben fortschreiten und dass das, was wir als Tod und Ende des Lebens bezeichnen, der Anfang für ein neues Leben ist. Der Heilige Qur’Án will aus dieser Sicht das Neuerstehen der Natur als ein lehrreiches Zeichen für das Auferstehen der Menschen im Jenseits darstellen und versucht bei jeder Gelegenheit, den Menschen diesen wichtigen Punkt, nämlich die in der Umwandlung der Natur und Wiederbelebung der Erde nach dem Tod verborgenen Botschaften den Ohren des Menschen näher zu bringen. Gott hat vom Himmel Wasser herabgesandt, damit die Erde nach dem Tod wieder belebt wird und die Lebendigkeit nach dem Tod ist ein Zeichen für diejenigen, die die verborgenen Botschaften hören (vgl. Sure an-Na½l, Vers 65). Und an anderer Stelle wird hinsichtlich der Veränderungen in der Natur in den verschiedenen Jahreszeiten gefragt: Seht ihr denn nicht, dass Gott, vom Himmel das Wasser herabgesandt hat, dass Flüsse fließen oder das Wasser in Flüsse umgewandelt wird und dadurch verschiedenfarbige Blumen und Wiesen wachsen, danach diese Blumen wieder gelb werden und letztlich absterben? (Vgl. Sure az-Zumar, Vers 21). Was ist eigentlich diese geheime Botschaft im Qur’Án, zu der er die hörenden Ohren und wissenden Menschen einlädt? Eine der wichtigsten Botschaften der Veränderung der Natur und dem Kommen und Gehen der Jahresabschnitte ist aus qur’Ánischer Sicht die Erinnerung an das Jenseits, und es wird erwähnt, dass der Tod nicht das Ende des Weges ist. Das, was wir als Ende bezeichnen, trägt in sich den Kern für neues Leben, ein Leben in einer höheren Qualität, d. h. das Ende hat einen Anfang vor sich. Gott hat vom Himmel so viel Wasser herabgesandt, dass die abgestorbenen Gebiete wieder lebendig werden, und mit der Auferstehung der Toten verhält es sich genauso (vgl. Sure az-Zu¿rÚf, Vers 11). Gott hat mit dem Wasser die gestorbene Erde wieder lebendig gemacht und am Tag der Auferstehung ist es genauso (vgl. Sure FÁÔir, Vers 9). Dank des Wassers hat Gott verschiedene Früchte hervorgebracht, und genauso wird Er die Toten wieder lebendig machen, vielleicht ist das eine Ermahnung für diejenigen, die sehen (vgl. Sure al-AþrÁf, Vers 57). Und letztlich wird mit aller Deutlichkeit betont und zum Menschen wird gesagt: Derjenige, der die gestorbene Erde wieder lebendig macht, hat auch die Fähigkeit, die toten Menschen wieder lebendig zu machen. Derjenige, der die Erde wieder lebendig gemacht hat, kann auch die toten Menschen wieder lebendig machen. Er ist zu jeder Tat fähig (vgl. Sure FuÈÈilat, Vers 39). Ja, es ist richtig, die Erinnerung an die Auferstehung und an das Jenseits ist die größte Lehre, die man aus der Auferstehung der Natur in der Frühlingszeit ziehen kann, und das ist das Grundprinzip und die Hauptlehre aller Religionen. Auch Ostern hat eine solche verborgene Botschaft in sich, in der unabhängig von jedem historischen Aspekt die Auferstehung Jesu (Friede sei mit ihm), an die die christlichen Geschwister glauben, die Ewigkeit des Lebens und die Besiegung des Todes beschrieben werden. Der Mensch soll sich für das ewige Leben vorbereiten, und er soll das ewige Leben nicht für das nichtige diesseitige Leben eintauschen. Aus qur’Ánischer Sicht macht das diesseitige Leben im Vergleich zum ewigen Leben im Jenseits nicht mehr als ein paar Tage aus, und wissend ist derjenige, der das Wenige nicht für das Ewige eintauscht. Wenn der Mensch die Idee von der Auferstehung und dem Jenseits nicht zielgerichtet wahrnimmt, wird er im Diesseits die Zielgerichtetheit des Lebens und das wertvollste Vermögen, nämlich sein Leben, für das Geringste hergeben. Darüber werde ich in den nächsten Ansprachen ausführlicher sprechen. Abschließend möchte ich Ihnen nochmals zum Frühlingsanfang und der Wiederbelebung der Natur gratulieren und auch zum Geburtstag von ImÁm MÚsÁ al-KÁãim (Friede sei mit ihm) allen Geschwistern meinen Glückwunsch aussprechen. Ich möchte diese Gelegenheit auch nutzen, um allen christlichen Mitbürgern schon heute ein gesegnetes Osterfest zu wünschen. Möge Gott uns allen eine bessere Existenz im Morgen gewähren. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.