Èawm صوم
Das Wort صوم (siyam) oder auch صوم (sawm) bezeichnet das islamische Fasten. Es stammt von der Wurzel ﺼﻡ (sama) ab, die soviel bedeutet wie „auferlegen“, „etwas von jemandem verlangen“. Das Wort ﺼﺎ ﺌﻡ (sa’im) stammt aus derselben Wurzel und bezeichnet sowohl den fastenden Menschen als auch ein gut dressiertes Pferd. Als letzteres war es schon in vorislamischer Zeit ein Fachausdruck aus der Pferdezucht: man übte mit den Tieren nicht nur verschiedene Sprünge und Gangarten, sondern gewöhnte sie auch daran, in öden Gegenden Hunger und Durst zu ertragen.
Hierin liegt der Schlüssel zum Verständnis des Fastenbegriffes im Qur’an. Das menschliche Ich wird oft als Pferd dargestellt, das zu erziehen ist, und das Fasten ist ein Mittel, die Selbstkontrolle zu steigern. Insofern unterscheidet sich das islamische Fasten trotz seines Nutzens für die Gesundheit vom medizinischen Fasten, bei dem man für eine längere Zeit lediglich auf bestimmte oder auf Nahrungsmittel überhaupt verzichtet. Es unterscheidet sich auch von einer asketischen Grundhaltung, bei der sich der Körper entweder an knappe Ernährung gewöhnt oder möglicherweise leidet und die Gesundheit Schaden nimmt; vor solchem ständigen oder übertriebenen Fasten warnt der Islam und erinnert daran, dass auch Dankbarkeit für Gottes Gaben ein wichtiger Bestandteil des Glaubenslebens ist.
Islamisches Fasten besteht darin, von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang auf Essen, Trinken, Rauchen u. dgl. zu verzichten, aber auch Gefühlsausbrüche wie Zorn oder Gereiztheit würden, da es sich um eine Übung der Selbstbeherrschung handelt, das Fasten beeinträchtigen, so dass, wie der Prophet (s.a.s.) sagte: „Das Ergebnis nichts als Hunger und Durst“ wäre.
Wirkliches Fasten bewirkt eine Bewusstseinsveränderung, bei der dem Ich sein angemessener Platz zugewiesen wird und andere Aspekte des Menschen mehr zur Geltung kommen:
1. Die Mitmenschlichkeit. Die Erfahrung des Fastens weckt das Mitgefühl mit anderen, die Not leiden. Für sie gibt man auch nach Abschluss des Fastenmonats eine Spende.
2. Selbstkontrolle und Verzicht auf Materielles ermöglichen verstärkte Offenheit auf spirituellem Gebiet und eine Annäherung an Gott. Nicht umsonst wird im Monat Ramawan gefastet, in dem der Qur’an offenbart wurde: der Gläubige versucht so weit wie möglich, sich der Erfahrung des Propheten zu nähern, der in der Einsamkeit betete und fastete, bis er die erste Offenbarung und seinen prophetischen Auftrag erhielt. Im Monat Ramawan wird auch für den gewöhnlichen Gläubigen das Studium des Qur’an um eine Dimension reicher.
Im Qur’an heißt es in Sure al-Baqara, Vers 183: „O ihr, die ihr glaubt, das Fasten ist euch vorgeschrieben, so wie es denen vorgeschrieben war, die vor euch waren. Vielleicht werdet ihr (Allah) fürchten.“
Der Text fährt in Sure al-Baqara, Vers 184, fort: „Eine bestimmte Anzahl von Tagen. Wer von euch aber krank oder auf Reisen ist, (der faste) an ebenso vielen anderen Tagen; und für jene, die es schwerlich bestehen würden, ist eine Ablösung: Speisung eines Armen (für jeden versäumten Tag). Und wer in freiwilligem Gehorsam Gutes tut, das ist noch besser für ihn, und Fasten ist gut für euch, wenn ihr es begreift.“Fasten ist also wie jedes andere Gebot im Islam von der Fähigkeit des Menschen abhängig, es durchführen zu können. Was für Kranke und Reisende gilt, trifft selbstverständlich auch auf Schwangere, stillende Mütter, alte Menschen und Kinder zu. Im nächsten Vers wird dies erläutert: „… Allah wünscht euch erleichtert. Er will es euch nicht schwer machen, – damit ihr die Frist vollendet und Allah rühmt, dass Er euch richtig geführt hat, und dass ihr dankbar sein möchtet.“ (Sure al-Baqara, Vers 185). Dankbarkeit ist eine spirituelle Stufe, die im Qur’an als wichtiger Ausdruck des Gehorsams gegenüber Gott angesehen wird, und sie wird durch das Fasten gefördert, wenn wir erleben, dass das, was uns Gott immer wieder gibt, keineswegs selbstverständlich ist.
Wie alle rituellen Handlungen hat auch das Fasten verschiedene Dimensionen. Es betrifft Körper und Geist des Menschen. Für den Körper bedeutet es Heilung von vielen vor allem ernährungsbedingten Krankheiten, für den Geist und das Herz ist es Reinigung von allen unlauteren Gedanken, Begierden und Empfindungen, d. h. eine umfassende Läuterung. „Dein Fastentag sollte nicht wie ein gewöhnlicher Tag sein. Wenn du fastest, müssen alle deine Sinne – Augen, Ohren, Zunge, Hände und Füße – mit dir fasten.“ lautet ein bekannter Ausspruch von Imam ja3far as-Sadiq (ﻉ).
Ziel des Fastens ist die Entwicklung der Gottesfurcht (Taqwa). Damit ist nicht Furcht im herkömmlichen Sinne gemeint, sondern es ist jene Grundhaltung des Gläubigen, alles auszuschalten, was ihn von Gott trennt, und alles zu tun, was Ihn zufrieden stellt. Der aufrichtig Fastende wird versuchen, sich schlechter Handlungen und böser Gedanken zu enthalten, um seine innige Beziehung zu seinem Schöpfer und Erhalter nicht zu trüben.
Von Prophet Muhammad (s.a.s.) ist folgende Begebenheit überliefert, die diesen Aspekt sehr anschaulich verdeutlicht. Der Gesandte Allahs wurde Zeuge, wie eine fastende Frau ihre Bedienstete schlecht behandelte. Er forderte diese Frau darauf hin auf, ihr Fasten zu beenden. Die Frau protestierte. Aber der Prophet gab ihr zur Antwort: „Aber hast du dein Fasten nicht schon mit deinem Verhalten gegenüber dem armen Mädchen gebrochen?!“
Fasten befreit den Menschen von inneren Fesseln, damit er schließlich auch die äußeren Fesseln überwinden kann. Läuterung der Seele, höhere Erkenntnis und Ehrfurcht vor dem Schöpfer und Erhalter haben erst dann ihren Zweck erfüllt, wenn sie ins Handeln umgesetzt werden. Ein moralisch erwachter Mensch sieht die Ungerechtigkeiten, spürt die Bedrängnis der Schwachen am eigenen Leibe, leidet unter der Unwissenheit und Gottferne vieler Zeitgenossen. Wenn Gott ihm die Kraft verleiht, wird der Gläubige, durch das Fasten gestärkt, seinen Kampf gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Unwissenheit und Falschheit aufnehmen.
,,Das Fasten gilt Mir und Ich Selbst werde es belohnen.“In diesem außerqur’anischen Gotteswort (Hadit al-qudsi) bezieht Gott das Fasten ganz auf Sich Selbst. Hier wird etwas über das Fasten gesagt, was Gott über kein anderes islamisches Gebot gesagt hat, nämlich dass unser Fasten ausschließlich für Gott ist. Was bedeutet das?
Im Gegensatz zu anderen rituellen Handlungen spielt sich das Fasten nur zwischen Gott und Seinem aufrichtigen Diener ab. Es fördert eine sehr enge Beziehung zwischen Mensch und Gott. Niemand steht dazwischen, niemand kontrolliert den Fastenden – außer Gott. Das Fasten kann viel weniger als z. B. das Gebet dazu dienen, dass wir es tun, nur um von anderen gesehen zu werden. Der Fastende übt Zurückhaltung und sieht nur sich selbst und seinen Schöpfer. Aufgrund seines Willens und seiner Nähe zu Gott hält er sich von schlechten Dingen fern.
Ein weiterer Grund, warum Gott das Fasten auf Sich Selbst bezieht, liegt darin, weil mit dem Fasten der Widersacher Gottes bekämpft wird. Satan nähert sich dem Menschen über dessen Begierden; Fasten ist somit die Negation des Bauches und der Begierden des Menschen.
Gott bezieht gerade das Fasten auf Sich, weil durch das Fasten eine einmalige Annäherung des Menschen an Gott stattfindet. Wie diese Annäherung an Gott aussieht, erfahren wir in einer Beschreibung ImÁm ³azzÁlis über die Stufen des Fastens
Er unterscheidet die folgenden drei Stufen des Fastens:
1. das allgemeine Fasten,
2. das besondere Fasten,
3. das ganz besondere Fasten.
Durch die erste Art des Fastens wird die Völlerei gezähmt. Der Mensch erlangt größere Kontrolle über seine Begierden.
Die zweite Stufe, das besondere Fasten, ist das Fasten der Rechtschaffenen. Dabei richtet der Mensch sein Auge und Ohr nicht auf schlechte Dinge. Er hütet seine Zunge, seine Hände und seine Beine vor sündhaften Dingen.
Die dritte Form des Fastens geht noch darüber hinaus. Es umfasst neben dem Körper auch das Innere des Menschen. Der Mensch hält auf dieser Stufe sogar schlechte Gedanken von sich fern. Wenn sich die Gedanken des Fastenden mit etwas anderem außer Gott abgeben würden, hätte er auf dieser Stufe sein Fasten gebrochen. Sein Herz ist ganz erfüllt vom göttlichen Bewusstsein, und er beschäftigt sich ausschließlich mit Gott. Es handelt sich hier um die höchste Form des Fastens der Propheten und Gottesnahen.
Das Fasten ist also nicht auf das Körperliche beschränkt. Es besteht aus vielen Dimensionen, die alle die Stufen zur „Taqwa“, zur Ehrfurcht und Gottesnähe, ausmachen. Diese Ehrfurcht vor Gott ist das höchste Element im Menschen, diese Gottesfurcht ist das, was den Menschen zum eigentlichen Menschen macht. Mit Ehrfurcht ist aber nicht Angst gemeint, sondern eine Art von sublimer Furcht, dass man in den Augen des Freundes fallen könnte, es ist eine Furcht, die aus Liebe resultiert. Verwirklicht der Fastende dieses Bewusstsein, steigt er auf zum wahren Diener Gottes. Dann ist er in der Lage, alles andere außer Gott auszuschalten, sich zu Gott hin zu bewegen und abzuwenden von allem, was außer Gott existiert. Das Fasten bekämpft außerdem die Fesseln schlechter Gewohnheiten. Es stärkt den Willen des Menschen, seine geistige und spirituelle Verfassung.