Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des BarmherzigenLobpreis sei Gott, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm) und seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen;) die seine Lehren verbreitet und erläutert haben.Ich gratuliere den muslimischen und den christlichen Schwestern und Brüdern zu den Festen in diesem Monat, dem Opferfest, dem Ghadirfest und auch dem Weihnachtsfest und wünsche Ihnen allen besinnliche und erfolgreiche Tage. In der letzten Freitagsansprache war die Rede von den Qur’anversen, die den Krieg thematisieren. Es wurde festgestellt, dass es zwei Vermutungen gibt für die Kriege, die der Prophet des Islam (s.a.s.) geführt hat: 1. Diese Verse rufen zum Krieg auf, und deshalb war es auf der Grundlage dieser Verse das Ziel und die Absicht des Propheten (s.a.s.), mit Kriegen den Andersdenkenden und Anhängern von anderen Religionen den Islam aufzuzwingen. 2. Die zweite Vermutung besteht darin, dass diese Verse einzig und allein zur tapferen Verteidigung des Lebens und des Rechts auf Leben aufrufen, und dass alle Kriege, die dem Propheten aufgezwungen wurden, Verteidigungskriege waren, um Gefahren von den Muslimen abzuwenden. Um feststellen zu können, welche von diesen beiden Vermutungen richtig ist, müssen wir den Heiligen Qur’an heranziehen und die entsprechenden Verse untersuchen, denn der Heilige Qur’an ist das einzige heilige Buch, das nach der Überzeugung der Muslime zweifellos die Wahrheit ist.[i] Wir haben oft betont, dass Qur’anverse im Zusammenhang mit anderen Versen verstanden und interpretiert werden müssen, weil man nur dann sicher sein kann, den Sinn des Qur’an auch wirklich zu verstehen. Das ist eine Methode, die der Heilige Qur’an selbst bestätigt.Zunächst wollen wir uns der ersten o. g. Vermutung zuwenden. Wenn der Heilige Qur’an seine Anhänger einladen würde, gegenüber den Andersdenkenden und Anhängern anderer Religionen Krieg zu führen, und Mohammad (s.a.s.) wie auch die anderen von Gott entsandten Propheten (a.s.) die Menschen mit Zwang und Gewalt zum Glauben zwingen sollten, sollte dies aus den Qur’anversen deutlich hervorgehen. Wir sehen jedoch, dass in vielen Qur’anversen Prophet Mohammad (s.a.s.) und den anderen Propheten (a.s.) mit aller Deutlichkeit gesagt wird, dass sie die Botschaft Gottes den anderen Menschen niemals aufzwingen und die Menschen nicht mittels Gewalt leiten dürfen. Sie sollen den Menschen einzig die Botschaft Gottes näher bringen und ihnen zu einem gewissen Bewusstsein verhelfen. Wenn die Menschen dieses Bewusstsein haben, obliegt es ihnen selbst, freiwillig zu wählen, worin der Weg zu Güte und Glückseligkeit besteht. Wenn die Menschen einen anderen Weg suchen, dürfen weder die Propheten noch irgendein anderer diese Menschen wegen ihrer falschen Wahl bestrafen. Sie dürfen die Menschen auch nicht zwingen, ihre Meinung und ihren Glauben zu ändern. Nachdem er die Menschen aufgeklärt hat, hat der Prophet keine weitere Verantwortung mehr zu erfüllen. Die Menschen sind selbst verantwortlich für ihre guten oder schlechten Taten, und das Urteil über das Handeln der Menschen obliegt Gott allein. Diese Behauptung wird z. B. von folgendem Vers unterstützt: „Es gibt keinen Zwang (Erzeugen von Widerwillen) im Glauben. Zweifellos ist der Weg der Glückseligkeit sehr klar gegenüber dem Irrweg…“ (Sure al-Baqara, Vers 256). Im Arabischen gibt es zwei Begriffe, die in diesem Zusammenhang wichtig sind:
- „Ikrah“, d. h. Widerwillen;
- „Idschbar“, d. h. Zwang.
Der Unterschied zwischen diesen zwei Begriffen ist in der arabischen Sprache groß. Aber in den deutschen Qur’anübersetzungen wurde dieser wichtige Unterschied bisher nicht hinreichend berücksichtigt. „Idschbar“ bedeutet „jemanden mit Gewalt zu etwas zwingen“. Der entscheidende Aspekt bei diesem Zwang ist die objektive Gewalt. Deshalb ist diese Art von Zwang immer mit Gewalt verbunden. Mit dem Begriff „Ikrah“ ist hingegen kein Zwang und keine Gewalt verbunden, d. h. man tut etwas, obwohl es gegen das eigene Interesse ist. Dieser Zustand, dass der Mensch eine derartige Entscheidung trifft, ist manchmal natürlich, wie z. B. im Falle eines Menschen, der Schulden hat, und aufgrund der Probleme gezwungen ist, gegen sein eigentliches Interesse sein Haus zu verkaufen. Manchmal wird auch durch den Zwang eines Gläubigers ein Schuldner zu einer solchen Tat gezwungen. Wie bereits erwähnt, ist aber der Begriff „Ikrah“ nicht mit direkter objektiver Gewalt und Zwang verbunden; vielmehr wird der Mensch indirekt gezwungen, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Im Vergleich dazu handelt es sich bei „Idschbar“ um reinen Zwang. Der Begriff „Ikrah“ besagt, dass möglicherweise kein direkter objektiver Wille gegeben ist, sondern nur ein subjektiver psychischer Druck, so dass wir z. B. von jemandem gefühlsmäßig unter Druck gesetzt werden, gegen unseren Willen etwas zu tun. Stellen Sie sich vor, jemand lebt in schlimmer Armut und hat Schwierigkeiten. Jemand anderes hilft diesem Menschen und verlangt gleichzeitig, dass er sich von seinem Hab und Gut trennt. Obwohl dieser Mensch das nicht tun möchte, fühlt er sich aufgrund dieser Hilfe letztlich dazu gezwungen. Diese Trennung geschieht aber nicht aufgrund von Zwang, sondern mit Widerwillen. Der Qur’an nennt Beispiele für Taten, die mit Widerwillen getan werden, wie z. B. in Sure at-Tauba. Dort ist die Rede von Menschen, die zwar äußerlich zu glauben scheinen, aber in ihrem tiefsten Inneren nicht gläubig sind. Sie verrichten das Gebet mit Widerwillen und sie helfen den Bedürftigen mit Widerwillen. Mit diesem Beispiel zeigt der Heilige Qur’an, dass niemand diese Leute gezwungen hat, zu helfen, und dass es grundsätzlich keine Pflicht ist, sondern vielmehr eine angesehene Tat. Diese Leute, von denen der Qur’an spricht, sind die Heuchler, die sich nach außen hin gläubig zeigen, aber diese Taten nicht mit echtem Interesse und aus Überzeugung tun, sondern mit Widerwillen und Desinteresse. Sie sind aber auch nicht zu diesen Taten gezwungen. Aus diesem Grund kann man nicht sagen, dass „Ikrah“ und „Idschbar“ die gleiche Bedeutung haben, und die Verwendung des Begriffes „Widerwillen“ für „Ikrah“ angemessen ist. Der Begriff „Ikrah“ und seine Ableitungen werden mehr als vierzig Mal im Heiligen Qur’an verwendet, und in manchen Versen wird dieser Begriff auf Gott angewendet.[ii]Interessanterweise verwenden die Übersetzer in den meisten Fällen die Begriffe „wollen“ oder „mögen“.[iii] In Fällen, in denen der Begriff „Ikrah“ in bezug auf die Religion oder den Glauben verneint wird, wird der Begriff „Zwang“ benutzt[iv], obwohl es keinen Grund für diesen Unterschied gibt. In diesen Fällen sollten Begriffe wie z. B. „Desinteresse“ oder „Widerwille“ verwendet werden. Mit dieser Erklärung wird Vers 256 der Sure al-Baqara deutlich dargelegt. Wir können aus dieser Erklärung ersehen, dass Gott Zwang, Macht und Gewalt im Hinblick auf die Religion verneint und ein Zustand, in dem jemand gezwungen wird, gegen seinen Willen eine Religion zu wählen oder auch abzulehnen, abgelehnt wird. Die Betonung der Grammatik zeigt, dass in diesem Vers die Verneinung und der Widerwille gegen die Religion absolut und bedingungslos sind. Man kann dies nicht als Ausnahme sehen, sondern es ist ohne Wenn und Aber eine allgemeingültige Bedingung. Es muss auch beachtet werden, dass Gott nach diesem Vers Kenntnis und Bewusstsein betont und feststellt, dass sich der Weg zur Glückseligkeit vom Irrweg unterscheidet. Daraus folgt, dass Bewusstsein und Widerwillen in diesem Beispiel nicht zu vereinbaren sind, sondern sich vielmehr widersprechen. Die Religion klärt die Menschen auf, und das kann nicht mittels Hervorrufen von Widerwillen geschehen. Aufklärung und Bewusstsein beeinflussen anfänglich eine Entscheidung und Tat. Dieses Bewusstsein, das Gott den Menschen mittels Religion und Propheten vermittelt, kann die Menschen überzeugen, und es ist nur natürlich, dass sie dann mit Interesse eine Entscheidung treffen, die im Einklang mit der Botschaft der Religion ist. Wenn ein Mensch nicht zu seiner solchen Entscheidung gelangt, haben Religion und Propheten kein Recht auf seine Entscheidung und keine Verantwortung dafür. Wenn sie das Recht hätten, die Entscheidung des Menschen zu beeinflussen oder zu erzwingen, wären Aufklärung und Bewusstsein bedeutungslos. In diesem Sinne müssten sie im Glauben, dass ihre Botschaft richtig ist, die Menschen von Anfang an zur Akzeptanz der Religion zwingen. Und wir wissen, dass das nicht zutrifft. In einem anderen Vers spricht Gott in aller Deutlichkeit zum Propheten: „Und wenn dein Herr es wollte, könnte er zweifellos alle, die auf der Erde sind (mittels Zwang) gläubig machen. Willst du die Menschen zwingen, gläubig zu werden, obwohl sie kein Interesse zeigen?“ (Sure Yunus, Vers 99). Hier wird erneut deutlich, dass der Widerwille dem Glauben gegenübersteht. Gott sagt, Er bräuchte keine Propheten, wenn der Menschen mittels Zwang und der Schaffung von Widerwillen glauben sollte, denn dann hätte Er ihm von Anfang an die Freiheit der Entscheidung nicht geben können. Gott hätte die Menschen alle als Gläubige erschaffen können, wie z. B. die Engel. Deshalb sagt Gott dem Propheten, dass er die Menschen nicht zwingen kann, zu glauben, sondern er kann ihnen nur mittels Aufklärung das Bewusstsein vermitteln, das ihn eine bewusste Entscheidung treffen lässt. In der nächsten Ansprache werden wir mit Gottes Hilfe zeigen, dass der Heilige Qur’an Zwang und die Schaffung von Widerwillen ebenso ablehnt wie die Einflussnahme der Propheten auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.
[i] Obwohl die Sunna des Propheten (s.a.s.) und die Überlieferungen für die Muslime ihre Gültigkeit haben und richtig sind, stellt sich die Frage, was die Worte des Propheten sind und was in den Überlieferungen in Wahrheit die Rede des Propheten ist. Dazu bedarf es einer eingehenden und zeitaufwändigen Untersuchung, so dass erst nach langer Untersuchungszeit die Unwahrheit einer Überlieferung festgestellt werden kann. Gültig sind die Überlieferungen, die mit den Aussagen des Heiligen Qur’an konform sind. Deshalb ist keine Überlieferung alleine gültig. Somit gelangen wir zu dem Ergebnis, dass der Inhalt des Heiligen Qur’an als heilige Schrift immer Gültigkeit hat.[ii] Siehe Heiliger Qur’an, Sure at-Tauba, Vers 46.[iii] S. ebd., Sure al-Anfal, Vers 8; Sure at-Tauba, Verse 32, 33 und 54; Sure Yunus, Vers 82 oder Sure al-Hudschurat, Vers 7.[iv] Siehe Sure al-Baqara, Vers 256, oder Sure Yunus, Vers 99, in deutschen Qur’anübersetzungen.