Interview mit Hosseini Ghaemmaghami
Alexander Görlach hat mit Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami, dem Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg über die Scharia, das Gesetz des Islam, und den Islam in Europa gesprochen.
Ayatollah Ghaemmaghami, viele Menschen in Europa fürchten sich vor der Scharia. Stimmt es denn, dass nach islamischem Glauben die Bestimmungen der Scharia eins zu eins in aller Welt umgesetzt werden müssen?Nein, das stimmt so nicht. Zu allererst kann die Scharia nur in einer Gesellschaft gelten, in der die Mehrheit der Menschen Muslime sind. Aber auch dies ist alleine nicht ausreichend. Eine weitere Voraussetzung ist notwendig, um islamische Bestimmungen in einer islamischen Gesellschaft durchführen zu können. Die Muslime müssen zustimmen, da es möglich ist, dass auch in einer islamischen Gesellschaft die Mehrheit der Menschen die islamischen Bestimmungen nur in ihrem individuellen Leben praktizieren möchten.
Natürlich erwartet der Islam, genau wie jede andere Religion, von seinen Anhängern, dass sie alle Bestimmungen praktizieren, aber letztendlich praktizieren Muslime die islamischen Bestimmungen auf der Basis des eigenen freien Willens, sogar auch in einer muslimischen Gesellschaft.
Wer die Bestimmungen übertritt wird als sündige Person betrachtet, der Mensch ist aber nur seinem Gott gegenüber verantwortlich und niemandem anders.
Niemand darf einen Moslem zu religiösen Pflichten zwingen, weder in seinem individuellen noch im gesellschaftlichen Leben.Somit ist der Islam selbst in einer islamischen Gesellschaft nur in einem demokratischen Prozess zu verwirklichen.Also muss in einer islamischen Gesellschaft die Bevölkerung nicht unbedingt oder automatisch nach der Scharia leben. Das islamische Gesetz verlangt, dass man es mit Hilfe der Vernunft kennen lernt und freiwillig akzeptiert. Jeder Moslem kann unter jedem Rechtsstaat leben.
Ist denn das göttliche Recht der Scharia mit den Mitteln der Vernunft einsehbar?
Zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Glauben und Wissenschaft gibt es in der islamischen Lehre keine Diskrepanz. Gott schenkt dem Menschen die Vernunft und auch die Freiheit. Der Mensch kann also das göttliche Gesetz verstehen und in Freiheit annehmen – oder es lassen. Die Rechtleitung Gottes, der Qur´an, hilft ihm, die Anlage zur Freiheit und die Fähigkeit seiner Vernunft zu nutzen, zu vervollkommnen. Gott ist der Schöpfer des Menschen und der Überbringer der Rechtleitung. Es ist nicht möglich dass Gott einerseits als Schöpfer den Menschen Freiheit und Vernunft gibt und andererseits in der Religion Anweisungen gegen die Freiheit und Vernunft erlässt. Wir Glauben, dass der Ursprung von beidem der Gleiche ist und in keinem Widerspruch zueinander steht.Die Scharia besteht aber nicht nur aus göttlichem Recht, sondern auch aus menschlichem Recht.
Genau. Und es ist meine Aufgabe als Religionsgelehrter zu unterscheiden, welche Teile des Rechts göttlich und somit unveränderlich sind und welche menschlichen Ursprungs sind, und somit dem Wandel unterliegen. Denn im Laufe der Geschichte haben sich religiöse Normen mit gewöhnlichen Vorstellungen, Traditionen und Kulturen vermischt. Man kann nicht immer auf den ersten Blick sagen, welche Aussage der Scharia wohin gehört. Dazu bedarf es detaillierter wissenschaftlicher Arbeit.
Was ist nun göttliches und was menschliches Recht im Islam?Es gibt, grob skizziert, in der Scharia Bestimmungen, die beziehen sich auf den Einzelnen, dann gibt es Anweisungen, die sich auf das Zusammenleben des Einzelnen mit den Mitmenschen in der Gesellschaft beziehen. Und es gibt einen dritten Bereich, in dem über die ganze Gesellschaft als solche gesprochen wird. In allen drei Bereichen gibt es sowohl Bestandteile göttlichen, als auch menschlichen Rechts. Aber was die Gesellschaft anbelangt, so sind die meisten seiner Elemente menschlich.
Können Sie ein Beispiel göttlichen Rechts nennen?
Der ganze Bereich des Kults: Das Gebet des Einzelnen, das Gebet der Gemeinde. Hier liegt göttliches Recht vor. Die aufgeführten Bestimmungen können nicht von Menschen verändert, modifiziert oder außer Kraft gesetzt werden.
Können Sie sich vorstellen, dass Elemente der Scharia in das europäische Rechtsystem überführt werden können?
Ja und Nein, zuerst möchte ich den Bereich ansprechen, für den das Nein gilt: Wie bereits erwähnt beinhaltet die Scharia sowohl göttliches als auch menschliches Recht. Das menschliche Recht bezieht sich auf die jeweilige Gesellschaft und Zeit und ist daher nicht unbedingt überall und immer gleich anwendbar. Analog dazu fällt auch meine Bejahung aus: Ja, aber niemals die ganze Scharia und auch nur unter bestimmten Voraussetzungen! Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Sowohl im islamischen Recht als auch im Recht der anderen Religionen stellt die Familie ein hohes Rechtsgut da. Es könnte doch Sinn machen, die Erfahrungen aus dem islamischen Rechtsystem in diesem Bereich in das der säkularen Staaten zu integrieren. Rechtssysteme atmen ja und sind lebendig, sie nehmen immer auch neue Elemente auf. Und diese neuen Elemente können von überall stammen, so wie in einer muslimischen Gesellschaft Elemente aus dem rechtlichen System der westlichen Welt angewendet werden und in einigen Angelegenheiten diese Erfahrungen unbedingt genutzt werden müssen. In einem lebendigen System gibt es immer diesen Austausch.
Also können Muslime problemlos in den säkularen Staaten des Westens leben?Natürlich, denn säkular bedeutet ja nicht religionslos. Die Säkularität legt den Grundstein für Pluralität. In den säkularen Gesellschaften darf eine Religion nicht mehr gelten als die anderen. Jeder ist frei, in seinem individuellen Leben auf der Basis seiner Religion und seines Glaubens zu handeln, ohne dass es erlaubt ist, diese der Gesellschaft aufzudrängen.. Selbstverständlich darf es für das individuelle Recht keine Hindernisse geben.
Auf dieser Grundlage können Muslime in ihrem individuellen Leben im Westen ihren Glauben praktizieren.Im in Europa gültigen Rechtssystem gibt es die Möglichkeit der Scheidung, es gibt Frauenrechte und die Anerkennung homosexueller Lebenspartnerschaften. Das sind alles Dinge, die mit dem islamischen Gesetz nicht in Einklang zu bringen sind. Welches Recht ist nun für den Muslim verbindlich?
Es ist ganz klar, dass ich das Gesetz des Landes, in dem ich lebe, befolgen muss. Alle diese Punkte, die Sie erwähnt haben, bedeuten, dass es für jeden Menschen in der Gesellschaft diese Rechte gibt, dass jeder diese Rechte nutzen kann, und ein Moslem muss diese Rechte, die für alle in der Gesellschaft zur Verfügung stehen, akzeptieren und respektieren. Z.B. darf er nie einen Homosexuellen beleidigen oder ihm gegenüber respektlos sein. Ein Moslem darf in seinem individuellen Leben auf der Basis seines Glaubens und seiner Überzeugungen handeln. Ich kann bestimmte Gesetze zwar kritisieren, aber ich darf sie nicht übertreten. Ein Muslim kann also auch unter nicht-islamischem Gesetz leben und ein guter Muslim sein. Natürlich muss auch für Muslime gewährleistet sein, dass sie in dieser Gesellschaft entsprechend der gesetzlich verankerten Freiheit der Religionsausübung ohne Benachteiligung ihren Glauben praktizieren können.
Sieht die Mehrheit der islamischen Gelehrten die Scharia so, wie Sie sie interpretieren?Es gibt solche, die sagen, dass die heiligen Texte wortwörtlich auszulegen sind. Und es gibt solche, die sagen, dass die Heiligkeit der Texte in der Aussage und den Normen, die im Inneren der Texte verborgen sind, besteht, und diese sollen über die Begriffe herausgearbeitet werden. Dieses Hervorbringen im islamischen Denken wird als solches bezüglich der Texte und heiligen Quellen als Ijtihad bezeichnet. Äußerungen, die vor 1400 Jahren an Menschen ergangen sind, muss ich heute noch auf der Basis der Normen, die herausgefunden wurden, interpretieren können. Ich gehöre zu der Gruppe der Gelehrten, die das so sieht.
Einige interpretieren die Verse getrennt voneinander, aber wir glauben, dass jeder Vers unter Einbeziehung anderer Verse und im Zusammenhang mit den anderen Versen interpretiert werden soll. Interessant ist, dass diese Vorgehensweise im Qur´an betont wird, und so ist es erstaunlich und bedauerlich, dass sie oft nicht beachtet wird.
Wie weit reicht Ihr Einfluss in die islamischen Gemeinden in Europa?
Meine Äußerungen in Bezug auf die islamischen Texte gelten als Aussagen eines Islamexperten, der die Erlaubnis zum Ijtihad der islamischen Texte vorweist. Dies bedeutet, dass sie nicht eine persönliche Meinung darstellen, sondern alle auf der Basis der Quellen und heiligen islamischen Texte stehen und dadurch die Akzeptanz für alle Muslime legitimiert ist.Erreichen Sie mit Ihren Vorstellungen die muslimischen Jugendlichen, von denen es heißt, dass sie sich immer mehr radikalisieren?
Die Jugendlichen können hin und her gerissen sein. Die Medien zeigen ihnen täglich radikale Muslime und sagen: „So sind die Muslime“ obwohl diese Gruppe unter den Muslimen eine Minderheit darstellt. Die Radikalen sind auch immer viel lauter und aggressiver als wir Moderaten. Und auch die Radikalen sagen. „So muss ein Muslim sein“. Einigen Jugendlichen kann in diesem Umfeld nur die Möglichkeit erscheinen, den Islam aufzugeben oder sich den lauten Radikalen anzuschließen. Die Mehrheit der Muslime ist aber nicht radikal, daher erwarten wir, dass die Medien der Stimme dieser Mehrheit, nämlich der Anhänger des rationalen und auf Vernunft basierenden Islam, mehr Gewicht beimessen und auch mehr über diese Mehrheit berichten.
Wie sieht denn die Zukunft des Islam in Europa aus?Die Beziehung zwischen Nichtmuslimen und Muslimen in dieser Gesellschaft kann verschiedenartig sein : zum einen können die Muslime weiterhin als Gäste betrachtet werden, die nicht dauerhafte Mitglieder der Gesellschaft sind und somit von ihnen auch nicht erwartet werden kann, dass sie die Verantwortung eines guten Mitbürgers tragen. Dieses Verständnis führt zu Hass und Zwiespalt. Zum anderen können wir die Realität und Zweckmäßigkeit für die Gesellschaft betrachten. Auch wenn vielleicht die Mehrheit der Muslime eine Zeit lang in dieser Gesellschaft als Gäste lebte, jetzt sind sie aber keine Gäste mehr, sondern viele leben hier in der dritten Generation oder sind einheimische Muslime.Der Islam steht für Frieden und ein friedliches Miteinander aller Geschöpfe, daher ist für mich der Dialog zum Verständnis ein besonderes Anliegen, denn dieses Verständnis verdeutlicht, dass der Islam und die Muslime längst in Europa angekommen sind und als Mitglieder der demokratischen Gesellschaften Verantwortung und Pflichten übernommen haben.
Bildergalerie: Besuch im Islamischen Zentrum Hamburg Quelle: http://www.cicero.de/97.php?ress_id=9&item=3246