Hojjatoleslam Dr. Seyyed Mohammad Nasser Taghavi
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
Lobpreis sei Gott, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenenGefährten. Ich rate mir selbst und Ihnen zu Frömmigkeit und Gottesfurcht.
Frömmigkeit ist die Gesamtheit alles Guten
In einer Überlieferung wird berichtet, dass jemand zum Propheten des Islam (s.a.s.) sprach: „O Ge-sandter Gottes, ich habe viele Überlieferungen von dir gehört, aber ich fürchte, dass ich sie alle verges-se. Sag’ mir einen Satz, der alle diese Überlieferungen zusammenfasst.“ Daraufhinsprach der Prophet zu dieser Person namens Yazid ibn Salmeh Ja’ani:
„Sei fromm und Gott dankbar für das, worüber du Kenntnis hast.“
(Sahih Bd. 10, S. 156)
Wir haben uns mit dem Thema Toleranz beschäftigt und in diesem Zusammenhang das Verständnis von Toleranz aus der Sicht des Heiligen Qur’an und der außerqur’anischen Gottesüberlieferungen (Hadth qudsi) bereits erörtert. Nun wollen wir einen Blick auf die Überlieferungen zu diesem Thema werfen.
Die Toleranz aus der Sicht der islamischen Überlieferungen
Es gibt viele Überlieferungen und Aussprüche von den islamischen Persönlichkeiten bezüglich der Toleranz, von denen wir hier einige erwähnen wollen. Bevor wir diese Überlieferungen direkt behan-deln, sollen wir den wichtigen Punkt erwähnen, dass es im Themenbereich der islamischen Ethik, gleich ob es um die individuelle oder die gesellschaftliche Moral geht, einige Begriff gibt, die im di-rekten Zusammenhang mit dem Toleranzbegriff stehen. Deshalb erscheint es angebracht, zunächst die verschiedenen Begriffe kurz zu erwähnen.
Begriffe, die mit der Toleranz eng verbunden sind
1. Freundlichkeit
Der Begriff, der dem der Toleranz am nächsten steht, ist die Freundlichkeit (rifq). Zuweilen wurde dieser Begriff ebenfalls als Toleranz übersetzt, was jedoch keine genaue Übersetzung ist. Freundlich-keit ist das Ergebnis von Toleranz, wenn man mit anderen Menschen Freundschaft schließt und be-freundet wird. Freundlichkeit steht im direkten Zusammenhang mit Toleranz und deshalb werden diese beiden Begriffe oft gleichzeitig benutzt. Imam þAlÍ (a.s.) sagte:
„Wo Freundlichkeit angemessen ist, sollte man Freundschaft schließen.“
(Nahju-l-Balaga, Brief Nr. 46).
2. Vernachlässigung oder Unachtsamkeit
Vernachlässigung (taghaful) ist im Zusammenhang mit der Toleranz so zu verstehen, dass man un-achtsam im Sinne von nachsichtig ist. Voraussetzung für Toleranz ist, dass man z. B. vernachlässigt oder übersieht, wenn man etwas Schlechtes in einem Menschen sieht, der vor einem steht. In einigen Überlieferungen wurde dieser Begriff gebraucht, wie z. B. im nachfolgenden Ausspruch von Imam þAlÍ (a.s.):
„Wenn jemand im Leben keine Nachsicht übt und vor vielen (erträglichen) Dingen nicht die Augen verschließt, für den wird das Leben unangenehm.“ (Ghoraru-l-Hikam, Bd. 5, S. 455).
3. Nachgiebigkeit oder Umgänglichkeit
Mit Nachgiebigkeit oder Umgänglichkeit (lin) ist gemeint, dass man in Wort und Tat bereit ist, nach-zugeben. Dieser Begriff ist das Ergebnis von Toleranz. Er kommt in einigen Überlieferungen vor, wie z. B. in einem Ausspruch von Imam Ali (a.s.). In einem seiner Schreiben an einen Kommandeur legt er diesem folgenden Umgang mit den Menschen nahe:
„Begegne ihnen mit Nachgiebigkeit und behandle sie beim Grüßen und in allen Dingen gleich, selbst beim Anschauen, damit die Einflussreichen nicht auf den Gedanken kommen, ungerecht zu werden, und die Armen nicht an deiner Gerechtigkeit zweifeln.“ (Nahju-l-Balaga, Brief Nr. 46).
Außerdem empfiehlt Imam þAlÍ Nachgiebigkeit in der individuellen und der gesellschaftlichen Moral und erklärt deren positiven Ergebnisse z. B. in folgenden Aussprüchen:
„Bei Nachgiebigkeit werden die Menschen ruhig und mit dir vertraut.“
„Mit jemandem, der einen freundlichen Umgang pflegt, soll man Freundschaft schließen.“
„Wer nachgiebig und freundlich ist, wird viele Freunde haben,
gleich einem Baum, der viele Zweige hat.“
4. Verzeihen (afw)
Damit ist das Verzeihen und Vergeben der Sünden der Missetäter gemeint, und in diesen Sinne gibt Gott im Heiligen Qur’an Seinem Propheten (s.a.s.) diese Anweisung: „übe Verzeihen“ (Sure al-Araf, Vers 199).
In islamischen Überlieferungen sehen wir, dass es empfohlen wurde, sich im Leben verzeihend zu ver-halten, wie aus diesen Worten des Propheten des Islam (s.a.s.) deutlich wird:
„Übt Verzeihen, denn Verzeihen verursacht Ehre und Ansehen für den Menschen. Deshalb verzeiht einander, damit Gott euch vor den anderen Menschen liebenswürdig macht.“
Diese Eigenschaft des Vergebens und Verzeihens ist jedoch in ihrer Vollkommenheit bei Gott zu fin-den, der Erste, der sich „Verzeihender“ nannte. Imam Sajjad (a.s.) hat diese Eigenschaft in einem Bittgebet erwähnt:
„Du bist Der, Der sich Verzeihender nannte, deshalb verzeihe mir.
(SahÍfeye Sajadiye, Bittgebet Nr. 16).
5. Stillschweigendes Übergehen (Safh)
Damit ist das stillschweigende Ignorieren der Fehler der anderen gemeint. Manche Gelehrte wie z. B. RÁ™ibe IÈfahÁnÍ in seinem Buch Al-MufradÁt sagen, dass der Unterschied zwischen Verzeihen und stillschweigendem Übergehen darin liegt, dass man beim Verzeihen auf den Fehler achtet und ihn da-nach verzeiht, während man beim stillschweigenden Übergehen den Fehler beim anderen überhaupt nicht registriert, d. h. wenn der Missetäter dann um Verzeihung bittet, wird mit ihm so verfahren, als habe er überhaupt keine Sünde begangen. Beim Verzeihen wurde die Sünde hingegen berücksichtigt und sie wird verziehen. Dieser Aspekt geht aus dem Heiligen Qur’an hervor, wie z. B. Sure an-NÚr, Vers 22, verdeutlicht:
„…sie sollen (vielmehr) vergeben und verzeihen. Wünscht ihr nicht, dass Gott euch vergebe? Und Gott ist allvergebend, barmherzig.“ (Sure an-NÚr, Vers 22).
Hier sehen wir, dass Gott von uns Verzeihen und stillschweigendes Übergehen erwartet, und Er ver-spricht uns Sein Verzeihen, wenn wir diese Eigenschaft in uns manifestieren. Gott hat Seinem Prophe-ten (s.a.s) im Hinblick auf die Götzendiener diese Eigenschaft oft empfohlen, wie z. B. in Sure az-Zu¿ruf, Vers 89, wo es heißt:
„Darum wende dich von ihnen ab und sprich: ‚Frieden!’…“
Und in Sure al-¼iºr, Vers 85, spricht Gott:
„…Darum übe Vergebung in schöner Weise.“
Die Linguisten erklären den Begriff „Safh“ so, dass der Sünder bzw. derjenige, der einen Fehler be-geht, nicht getadelt wird. Das empfiehlt Gott Seinem Propheten, und das ist eine Eigenschaft und Me-thode Mu½ammads (s.a.s.) oder vielmehr aller Propheten Gottes. Im Heiligen Qur’an lesen wir über die Geschichte Josefs (a.s.), dass seine sündigen Brüder, nachdem sie Josef in den Brunnen geworfen hatten, ihren Vater belogen haben, und Josef ihnen darauf hin nicht nur verzieh, sondern auch sprach:
„…Kein Tadel treffe euch heute. Möge Gott euch vergeben…“ (Sure YÚsuf, Vers 92)
Deshalb steht Èaf½ über þafw, denn stillschweigendes Übergehen ist immer auch Verzeihen, aber nicht jedes Verzeihen ist gleichbedeutend mit stillschweigendem Übergehen. Æaf½ bedeutet ein Stillschwei-gen ohne jeglichen Tadel, wie Imam Reza (a.s.) sagte:
„Æaf½ ist stillschweigendes Übergehen ohne Tadel.“
(TafsÍr BurhÁn, Vers 85 der Sure al-¼iºr).
Selbstverständlich stellt dieser Begriff (Èaf½) ohne Wenn und Aber eine Notwendigkeit dar für eine vollkommene Toleranz.
Dieses Thema werden wir, so Gott will, bei nächster Gelegenheit fortsetzen. Möge Gott uns die Eigen-schaften des Verzeihens und des nachsichtigen Übersehens schenken und uns Seine Barmherzigkeit gewähren; Gott, Du bist der Barmherzigste der Barmherzigen. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.