Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.Ich rate mir selbst und Ihnen allen zu Gottesfurcht. In der letzten Freitagsansprache haben wir über die Beziehung zwischen der Welt der Natur und der himmlischen Welt gesprochen. Dabei haben wir unter Verweis auf den Heiligen Qur’an festgestellt, dass zwischen diesen beiden Welten, d. h. der Welt in der wir leben, und der himmlischen Welt, eine tiefe und dauerhafte Beziehung besteht. Dabei wurde der Begriff „Áyeh“ vorgestellt, der aus qur’anischer Sicht ein besonderes Zeichen ist, das mit dem Hauptthema, nämlich dem Sinn des Seins, eine tiefe und substantielle Verbindung hat. Der Qur’an bezeichnet diese gegebene Beziehung zwischen beiden Welten als ein besonderes Zeichen Gottes. Somit gelangen wir zu dem Ergebnis, dass es aus qur’anischer Sicht keine Trennung gibt zwischen den beiden Welten, d. h. der Welt der Natur und der himmlischen Welt, und dass die Veränderungen in der himmlischen Welt folglich auf die natürliche Welt wirken. Aus diesem Grund befasst sich ein großer Teil des Qur’an mit der Erkenntnis und Wahrnehmung dieser Beziehung, auf die die Menschen achten sollen. Der Qur’an lädt die Menschen wiederholt dazu ein, über die Zeichen Gottes nachzudenken.[1] Dabei wird manchmal statt „denken“ und „nachdenken“ der Begriff „erwähnen“ oder „erinnern“ gebraucht.[2] Die Erinnerung erlangt ihre Bedeutung, wenn etwas vergessen wird. Die Missachtung der Beziehung zwischen der himmlischen und der natürlichen Welt resultiert in Vergessen. Da diese Verbindung jedoch so deutlich und klar ist, dass jeder kluge Mensch sie mittels ein wenig Nachdenken erkennen kann, bezeichnet der Qur’an diese Entdeckung und Erkenntnis als „Erinnerung“, wie wenn man z. B. eine Seite einer Münze sieht und sich dadurch an deren Rückseite erinnert. D. h. jede Seite der Münze ist das Zeichen für die jeweils andere Seite. Ein weiterer Begriff, den der Heilige Qur’an für die Beschreibung und Erklärung des Nachdenkens über die göttlichen Zeichen gebraucht, ist der Begriff „Lehre“ (þebrat). In diesem Sinne wird z. B. der Wechsel von Tag und Nacht als eine Lehre für die Wissenden verstanden.[3]þebrat“ ist das Zurücklegen einer Strecke, was mit Veränderungen einhergeht. Wenn sich ein Geschehen für einen Menschen wiederholt, dann erinnert er sich beim zweiten Mal, das ihm das Gleiche schon einmal passiert ist. Es ist nur natürlich, dass man beim zweiten Fall aus dem ersten Fall seine Lehren gezogen hat und man folglich besser vorbereitet ist. Im Deutschen wird für den Begriff „þebrat“
Die wortwörtliche Bedeutung von „der Ausdruck „Lehre“ gebraucht, und Nachdenken ist das Ergebnis von solchen Lehren. Deshalb bezeichnet der Qur’an den Wechsel von Tag und Nacht z. B. als ein Zeichen Gottes[4] und als eine Lehre für die Wissenden[5]. Aus dieser Erklärung wird deutlich, warum dieser Begriff hier gebraucht wird. Der Qur’an bezeichnet das Nachdenken über die Welt der Natur als eine Seite der Medaille, deren andere Seite die himmlische Welt ist. Die Welt der Natur bezeichnet der Qur’an als die Welt der Schöpfung, die andere als die himmlische Welt.[6] Die enge und untrennbare Beziehung zwischen beiden kommt in den Begriffen Diesseits und Jenseits zum Ausdruck. Das Diesseits erinnert an das Jenseits, und es ist erstaunlich, dass die enge Beziehung zwischen beiden mitunter nicht verstanden wird. Deshalb äußert der Qur’an Verwunderung über die Menschen, deren Bewusstsein vom Diesseits sie nicht zur Erkenntnis des Jenseits führt. „Und ihr kennt doch gewiss die erste Schöpfung. Warum also wollt ihr euch nicht besinnen?“(Sure al-Waqia, Vers 62). Das Original eines jeden Phänomens der natürlichen Welt ist in der himmlischen Welt vorhanden, und die natürlichen Lebewesen sind die reduzierte Form der vollkommenen Lebewesen, die in der anderen Welt sind.„Und es gibt nichts, von dem Wir keine Schätze hätten; aber Wir senden es nur in bestimmtem Maß hinab.“ (Sure al-¼iºr, Vers 21). Das Wort „Êay’” bedeutet „Sache”, und damit ist in diesem Vers jedes Phänomen gemeint, das auf der Erde vorhanden ist. Der Begriff „Schätze“ weist darauf hin, dass es von dem, was es auf der Erde gibt, in der himmlischen Welt noch mehr davon gibt. Was wir auf der Erde und in der natürlichen Welt sehen, ist nur ein Beispiel für die Schätze der himmlischen Welt.[7] Im Heiligen Qur’an wird wiederholt betont, dass die himmlische Seite der Dinge der Herrschaft Gottes angehört: „… in Dessen Hand die Herrschaft über alle himmlischen Dinge ruht…“ (Sure Yasin, Vers 83). Diese Verse verdeutlichen, dass die Welt nicht auf die Welt der Natur beschränkt ist, sondern es gibt im Sein noch eine andere Welt, die vollkommener ist als diese, und diese beiden Welten sind nicht voneinander getrennt. Jede gute Tat, jede Schönheit und jede Freude in dieser Welt wird von der vollkommenen himmlischen Welt verursacht.[8] Demnach ist unsere Welt im Vergleich zur himmlischen Welt neben dieser angeordnet und unmittelbar mit ihr verbunden. Aus qur’anischer Sicht ist die Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits also nicht nachgeordneter Natur, sondern vielmehr ist die Verbindung dieser zwei Welten von der Dimension der Breite und nicht von der Dimension der Länge bestimmt. Sie sind also nicht vergleichbar z. B. mit zwei Städten, von denen man zunächst die erste und dann die zweite erreicht, sondern sie sind wie Licht, dessen Intensität in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich ist, wobei die schwächeren Lichtstrahlen nicht vom starken Licht getrennt sind und umgekehrt. Demnach liegt der Unterschied nicht im Wesen dieser Dinge, sondern in ihren Eigenschaften, d. h. man kann vom schwachen zum starken Licht gelangen. Das ist vergleichbar mit Kern und Schale: Mit der Schale hat man auch den Kern in der Hand, und wenn man die Schale beseitigt, gelangt man zum Kern. Es bedeutet aber nicht, dass man z. B. mit dem Erreichen der ersten Stadt gleichzeitig automatisch auch in der zweiten Stadt ist. Diese Beispiele sollen die besondere Sicht des Qur’an von der natürlichen und der himmlischen Welt verdeutlichen. Die Beziehung ist immer gegeben, und sie muss nicht hergestellt, sondern vielmehr vom Menschen entdeckt werden. Der Mensch soll darum bemüht sein, diese Beziehung zwischen den beiden Welten herauszukristallisieren, und Bewusstsein darüber zu entwickeln. Sein Bewusstsein resultiert in der Identität, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Je besser der Mensch diese Beziehung kennt und versteht, desto vollkommener kann er werden. Aus qur’anischer Sicht wird der Mensch die tiefe Beziehung zwischen diesen Welten verstehen und kennen.[9] Dies geschieht beim Menschen erst nach dem Tod, wenn die materiellen Vorhänge beseitigt werden; dann kann er die Geheimnisse der Welt sehen und die himmlische Welt wird für ihn offenbar. Der Qur’an verweist darauf, dass der Mensch mit dem Tod die himmlische Welt erreicht. Die menschliche Gesellschaft wird am Ende der Geschichte, d. h. am Ende der materiellen Welt, nachdem der Mensch seine volle Kapazität erlangt hat und seine inhärenten Fähigkeiten in dieser Welt realisiert, daraus Nutzen ziehen. Das Leben im Diesseits wird ein Ende finden, weil seine weitere Vervollkommnung auf dieser Erde nicht möglich ist; in diesem Moment erscheint die vollkommene himmlische Welt, und das ist das Ereignis, das als Auferstehung bezeichnet wird. Damit er dieses Bewusstsein erreicht, muss der Mensch nicht auf das Sterben warten, sondern er kann im Laufe seines Lebens mittels seines Willens einige der Vorhänge beseitigen.[10] Diese Erkenntnis ist dem Menschen jederzeit möglich. Der Qur’an betont, dass jede Sache eine himmlische Seite hat[11], und er lädt alle Menschen ein, diese himmlische Seite der Erde und auch den Himmel zu sehen.[12] Der Qur’an verweist auf das Beispiel Abrahams (a.s.), der den Glauben an die Einheit Gottes begründete und die Wahrheit der Himmel und der Erde sehen konnte.[13] Dies kann nur jemand erreichen, der fest an die Beziehung zwischen den beiden Welten glaubt und das Diesseits als Zeichen des Jenseits sieht. Aus diesem Grund hebt der Qur’an in aller Deutlichkeit hervor, dass für diejenigen, die die Zeichen Gottes außer Acht lassen, die Tore des Himmels nicht geöffnet werden[14], denn die Öffnung der himmlischen Tore setzt Vertrautheit mit der himmlischen Welt voraus. Es trifft zu, dass die himmlische Welt mit der natürlichen Welt eng verbunden ist, aber diese Beziehung ist transzendenter Natur, d. h. der Mensch kann diese mit seinen gewöhnlichen Sinnen und materiellen Mitteln nicht erkennen. Deshalb spricht der Qur’an von der himmlischen Welt als dem „Verborgenen“.[15] Der Glaube an das Verborgene ist die Hauptsubstanz religiösen Glaubens. Diejenigen glauben an das Verborgene, die die Verbundenheit beider Welten erfahren haben. Grundsätzlich stellt die göttliche Religion die Beziehung mit der Welt der Verborgenheit her, öffnet der natürlichen Welt die Tore zur himmlischen Welt. Die religiösen Lehren wie z. B. die verschiedenen Formen der Anbetung und die religiösen Zeremonien haben dieses Ziel. Anbetung, Gebet, Zwiesprache mit Gott und das Nachdenken über die Schöpfung des Menschen und die Welt sind wichtig. Islamischen Überlieferungen zufolge entspricht das Nachdenken der Anbetung von 70 Jahren. Es öffnet dem Menschen dank seiner göttlichen Veranlagung die Tore des Himmels, auf die ihm materielle Hindernisse den Blick erschweren. Ist der Mensch sehr auf das Diesseits konzentriert, wird er seine wesentliche Heimat vergessen, und dies führt zu Entfremdung. Diese Art der Entfremdung findet ihren Ausdruck in Ruhelosigkeit und Traurigkeit. Oftmals haben wir die Erfahrung gemacht, dass Gebete uns Ruhe schenken und man sich seiner ursprünglichen Heimat nahe fühlt. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.
Anmerkungen:[1] Z. B. Sure al-Baqara, Verse 73, 164; 242; Sure an-NÚr, Vers 61; Sure al-¼adÍd, Vers 17; Sure ar-Raþd, Vers 4.[2] Z. B. Sure al-Baqara, Vers 221; Sure al-Anam, Vers 126; Sure Sad, Vers 29; Sure Ghafir, Vers 13; Sure al-FurqÁn, Vers 62.[3] Sure an-NÚr, Vers 44.[4] Sure Fussilat, Vers 37.[5] Sure an-NÚr, Vers 44.[6] Z. B. „Aber Gottes ist die erste und die zweite Welt (Diesseits und Jenseits).“ Sure an-Najm, Vers 25; siehe auch Sure al-Qiyama, Vers 21; Sure an-Naziþat, Vers 25; Sure al-Ala, Vers 17; Sure Yasin, Vers 13; Sure ad-Duha, Vers 4.[7] Diese qur’anische Sicht hat einen großen Einfluss auf das Leben eines gläubigen Menschen und seinen Umgang mit der Natur. Der Qur’an sagt, dass ein gläubiger Mensch die Natur nicht als eine Ansammlung von toten Lebewesen sehen soll, sondern was in der Natur vorhanden ist, wie z. B. Wasser, Erde, Pflanzen, Felder, Wälder und alles, was als natürliches Sein bezeichnet wird, lebt, und hat wie die Menschen eine himmlische Welt. Deshalb darf man ihnen keinen Schaden zufügen und sie nicht außer Acht lassen. Alles, was es in der Natur gibt, hat ein Leben. Das Wasser gibt das Leben, wie z. B. in Sure al-AnbiyÁ’, Vers 30, oder noch deutlicher in Sure Maryam, Vers 93, erwähnt wurde, wonach alle Lebewesen Diener Gottes sind.[8] Das Diesseits ist vergänglich und mangelhaft, während das Jenseits himmlisch, unbegrenzt und vollkommen ist. Deshalb sagt der Qur’an, dass das eigentliche Leben im Jenseits ist: „…die Wohnstatt des Jenseits aber – das ist das eigentliche Leben, wenn sie es nur wüssten!“ (Sure al-þAnkabÚt, Vers 64).[9] Der Qur’an sagt, dass der Glaube an die Auferstehung die Ergänzung des Bewusstseins ist und sich der Mensch dadurch seiner Mängel und Schwächen bewusst wird. Sein mangelhaftes Bewusstsein wird ihm bewusst, und er bedauert und bereut sein Zögern und sein Missachten. Sicherlich kann man das jenseitige Bewusstsein auch im Diesseits erreichen. Deshalb spricht der Qur’an von Unwissenheit und Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit. Unser fehlendes Bewusstsein beruht auf Nachlässigkeit, wie Sure QÁf, Vers 22, zum Ausdruck bringt: „O Mensch, vor der Auferstehung warst du nachlässig und achtlos. Nun haben wir Deine Augenbinde von Dir genommen, so dass dein Blick heute scharf ist.“[10] In islamischen Quellen wurde von Jesus überliefert, dass er sagte: „Wer nicht zweimal geboren wurde, wird das Reich des Himmels nicht erreichen.“ Die Bedeutung der ersten Geburt ist klar; damit ist der Eintritt in die Welt der Natur gemeint; und die zweite Geburt ist die Zeit, in der der Mensch durch Nachdenken seine Beziehung zum Jenseits und zur himmlischen Welt herauskristallisiert.[11] Sure Yasin, Vers 83.[12] Sure al-Araf, Vers 185.[13] Sure al-Anam, Vers 75.[14] Sure al-Araf, Vers 40.[15] Z. B. Sure an-Nahl, Vers 77: „Und Allah gehört das Ungesehene der Himmel und der Erde…“