Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
(Einleitende Anmerkungen zur Bedeutung des Ausdrucks „europäischer Islam“)Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In den beiden vorausgegangenen Ansprachen wurden bereits die Bedeutung der Kenntnis von den kulturellen und gesellschaftlichen Sitten und Gewohnheiten zur Zeit der Offenbarung und auch der Offenbarungsanlässe für das Verstehen der qur’anischen Lehren und der wesentlichen Botschaft des Qur’ans erörtert. Es wurde ferner hervorgehoben, dass die islamische Lehre von kulturellen Sitten und Traditionen differenziert werden muss, um zu einer unbeeinflussten Interpretation gelangen zu können. Verständnis und Harmonie des Islam mit unterschiedlichen Kulturen der Gesellschaften Ein wichtiger Punkt, der im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen den islamischen Lehren und der Interpretation der qur’anischen Verse und den Kulturen und Traditionen von Gesellschaften und Stämmen beachtet werden muss, besteht in dem, was wir kritisieren und als unwahr erklären, nämlich das Aufzwingen von Traditionen auf die Qur’anverse und die Gleichstellung dieser Traditionen mit Geboten und islamischen Lehren. Es muss beachtet werden, dass einige islamische Gebote in der Praxis, und nicht beim Verstehen und der Interpretation, mit Sitten und Werten der unterschiedlichen Gesellschaften vermischt und damit in Einklang gebracht werden, und das ist eine Wahrheit, die man nicht in Frage stellen kann. Diese Einbeziehung und Vermischung geschieht auf zweierlei Weise: 1. In manchen Fällen, insbesondere im gesellschaftlichen Bereich, kommt es vor, dass der Islam keine Empfehlung oder besondere Lehre hat, d. h. er hat sich darüber nicht geäußert, sondern hat Stillschweigen bewahrt. In solchen Fällen sieht er die Traditionen und gesellschaftlichen Werte als Grundlage und Maßstab der Praxis an.[1] Ehre 2. Fälle, in denen die Gebote und islamischen Lehren grundsätzlich erklärt wurden, die zu praktizierende Form aber nicht genau bestimmt wurde und folglich jede Form und Gestalt ein bestimmtes Ziel
bewahren kann. Zu dieser Form von Geboten gehört z. B. das Prinzip der islamischen Bekleidung (½iºÁb), d. h. dass Frau und Mann in der Öffentlichkeit eine entsprechende Bekleidung tragen und sich jeder Art der Blöße fernhalten sollen. Das ist ein islamisches und qur’anisches Gebot. Aber welche Form und welches Aussehen diese Bekleidung haben soll, ist eine gänzlich kulturelle Angelegenheit, die sich den Werten und Strukturen der verschiedenen Gesellschaften anpassen soll. Deshalb verursacht hier das Einhergehen der qur’anischen Gebote mit gesellschaftlich-kulturellen Strukturen kein Problem. Aber diese zwei Dinge darf man nicht miteinander vermischen, und man darf kulturelle Angelegenheiten nicht als islamische Lehren vorstellen, sondern es ist geboten, beides voneinander zu trennen. Die Bedeutung dieser Differenzierung und Trennung liegt darin, dass man die islamischen Lehren und Gebote in solchen Fällen aus dem begrenzten Anspruch eines bestimmtes Volkes oder einer bestimmten Kultur herausnimmt und ihnen eine Flexibilität verleiht, die sie mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Kulturen und Strukturen kompatibel sein lassen. Aus dieser Sicht unterscheiden sich ein arabischer, persischer, afrikanischer oder europäischer Muslim im Hinblick auf das Muslimsein und die Berücksichtigung der islamischen Gebote nicht voneinander. Aber hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Werte und der praktischen Umsetzung vieler dieser Gebote weisen sie deutliche Unterschiede auf, und diese Unterschiede bestimmen die besondere Identität und Persönlichkeit eines jeden von ihnen. Wenn vom Einheimischwerden des Islam in der europäischen Gesellschaft oder dem europäischem Islam die Rede ist, kann man in aller Deutlichkeit auf diese zwei Arten (die miteinander vermischt sind) verweisen und darauf aufmerksam machen. Hier sehen wir, dass diese Vermischung von Geboten und islamischen Lehren und den Qur’aninter-pretationen in keinem dieser beiden erwähnten Fälle ein Aufzwingen dieser Kulturen und gesellschaftlichen Werte auf das Wesen der Gebote und Lehren oder ihre Beteiligung beim Verstehen und der Interpretation des Qur’an bedeuten, sondern diese Vermischung und dieses Einhergehen ist genau definiert und findet in einem unabhängigen Bereich statt. Anders gesagt: Diese Vermischung impliziert das harmonische miteinander Einhergehen von zwei unabhängigen Identitäten (d. h. die islamischen Gebote und kulturellen Werte haben jeweils eine unabhängige und voneinander getrennte Identität, zwischen denen jedoch Harmonie und Verständnis vorhanden sind, und keine von beiden verneint oder lehnt
die jeweils andere ab). Man darf sich für diese beiden niemals eine einheitliche Identität vorstellen, d. h., wenn eine von diesen beiden auftritt, muss die andere notwendigerweise nicht ebenfalls präsent sein. Die Gleichstellung von Islam und Kultur ist genau der große Fehler derjenigen, die die Absicht hatten und haben, die kulturellen Werte einiger islamischen Gesellschaften in der Vergangenheit und der Gegenwart im Namen des Islam und des Qur’anverständnisses auf alle Muslime in allen Gesellschaften zu übertragen. Das Ergebnis einer solchen falschen Sichtweise wäre z. B. das Muslimsein in einer westlichen Gesellschaft mit arabischer, türkischer oder persischer Kultur. Bedauerlicherweise sind die Zeichen dieser falschen Sichtweise nicht nur unter gewöhnlichen muslimischen Menschen, sondern auch bei einigen Gelehrten, Denkern und sogar muslimischen Intellektuellen zu sehen. So können wir z. B. beobachten, dass manche arabische muslimische Schriftsteller und Denker das islamische Denken noch
immer mit dem arabischen Denken gleichsetzen, und sie nutzen die Besonderheit der arabischen Sprache des Qur’an, des Ausgangsortes des Islam (d. h. dass der Islam auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist) und des islamischen Denkens dazu, um den Islam mit der arabischen Kultur und Tradition gleichzusetzen. Hier erscheint es angemessen, auf die Sichtweise des europäischen Muslims Prof. Henri Corbin hinzuweisen, der eine umfassende Kenntnis vom islamischen Denken hatte und jede Art der Gleichsetzung des islamischem Denkens mit der Kultur der islamischen Gesellschaften, insbesondere der arabischen Gesellschaft, ablehnte. Er sagt: Die arabische Sprache ist die Sprache des Qur’an und die Sprache der Anbetung (im Islam). Die arabische Sprache ist ein Instrument und Werkzeug, derer sich das arabische Volk wie jedes andere Volk sich seiner Sprache für die Äußerung der Begriffe bedient, und es ist eine der lebendigsten und fruchtbarsten Literaturen der Welt. D. h. diese Art der erörterten Literatur wurde im Rahmen der arabischen Sprache gestaltet. Aber die Bedeutung der Begriffe von Stämmen und Ethnien haben sich mit der Zeit geändert. Heutzutage kann man die religiöse Bedeutung von „Islam“ nicht prinzipiell mit einem ethnischen Begriff gleichsetzen; und man kann auch die ethnischen und nationalen Begriffe, die nichtreligiöse Begriffe sind, nicht auf den Islam begrenzen.[2] Wie dieser muslimische Franzose zu Recht erwähnt, sind die Begriffe und Werte, die jeder Gesellschaft und Nation grundsätzlich ihre Identität verleihen, nichtreligiöse Begriffe, die man nicht mit religiösen Begriffen gleichsetzen kann. Aber gleichzeitig sind diese gesellschaftlichen und nationalen Werte und Begriffe nicht nur nichtreligiös und gegen Religion an sich, und deshalb besteht in jeder Gesellschaft die Möglichkeit zu dieser Übereinstimmung mit den religiösen Begriffen und diesem Verständnis. Wo von europäisch die Rede ist, kann man genau auf diese zwei Bestandteile (d. h. diese zwei miteinander vermischten Teile) verweisen, und es ist nur natürlich, wenn in manchen Fällen, in denen die allgemeinen Gebote und die wahre islamische Lehre mit manchen kulturellen Sitten und gesellschaftlichen Werten vermischt werden, es für europäische Muslime die Kultur und die gesellschaftlichen Werte der europäischen Gesellschaft sind, die an diesem Austausch teilhaben sollen, und nicht die Kultur und Struktur anderer islamischer Gesellschaften. In diesem Fall darf man niemals importierend vorgehen. Deshalb haben die Muslime, egal wo und in welcher Gesellschaft sie leben, ungeachtet ihrer einheitlichen und gemeinsamen islamischen Identität, die auf gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und Verhaltensweisen gründet, die letztlich aus islamischen Geboten und Lehren resultieren, unterschiedliche Kulturen und Strukturen entsprechend der Gesellschaft, der sie angehören. Dieser Erwartung entspricht selbstverständlich, dass der arabische, türkische, persische, afrikanische und europäische Muslim eine gemeinsame islamische Identität haben und sie den islamischen Lehren und Geboten gleichermaßen treu sind. Aber man kann niemals erwarten, dass der europäische Muslim den kulturellen Rahmen, den die anderen Muslime praktizieren, nachahmt. Zweifellos weist der europäische Muslim aufgrund der Tatsache, dass er der europäischen Gesellschaft mit ihrer speziellen Struktur und Kultur angehört, gewisse Unterschiede zu Muslimen in anderen Gesellschaften auf. Des
wegen habe ich wiederholt betont, dass man in Europa an die europäischen Muslime denken muss und nicht an Muslime in Europa. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.
Fußnoten:[1] Der Islam hat hinsichtlich der Bekleidung von Frau und Mann, grundsätzlich ihrer Erscheinung in der Gesellschaft und der Form ihres gesellschaftlichen Verhaltens betont, dass die Tradition, in der man lebt, berücksichtigt werden soll, und dass jeder Widerstand gegen die vorhandene Sitte der Gesellschaft in diesem Zusammenhang verboten ist. Selbst wenn jemand einen hohen religiösen Rang hat, muss unter Berücksichtigung seines Rangs und der ihm entgegengebrachten Achtung, seine Legitimation ernsthaft überprüft werden, wenn er Strukturen umstrukturiert, dagegen verstößt und ein unnatürliches, gegen die in dieser Gesellschaft vorhandenen Tradition gerichtetes Verhalten zeigt. S. z. B. Al-madhal al-fuqaha al-Ám, S. 53; Gawahir al-Islam, Bd. 23, S. 263, al-usul al-amma lil-fiqh al-muqarin, S. 422.[2] Henri Corbin, Die Geschichte der islamischen Philosophie; Vorwort.