Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
(Einleitende Anmerkungen zur Bedeutung des Ausdrucks „europäischer Islam“)Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In den letzten Freitagsansprachen wurden die Methodologie der Qur’aninterpretation und die Herauskristallisierung der wesentlichen und endgültigen Botschaft Gottes aus den qur’anischen Versen erörtert. Dabei wurde deutlich, dass die Kenntnis von der definitiven Sicht des Islam im Hinblick auf die verschiedenen Themen eines IºtihÁdprozesses bedarf (also einer eigenständigen Urteilsbildung über rechtlich-theologische Fragen durch selbständige Interpretation der Quellen), was wiederum umfassende Kenntnis von den verschiedenen Wissenschaften und insbesondere auch vom jeweiligen Offenbarungsanlass eines Verses bedingt. Werden Qur’anverse ohne diese Kenntnisse interpretiert, besteht die Gefahr, dass der wahre Geist der qur’anischen Lehre unerkannt bleibt. So ist es zu erklären, dass viele Traditionen und Sitten der muslimischen Araber aus der vorislamischen Zeit der Torheit (¹ÁhilÍya)mit dem Namen des Islam versehen wurden, oder die islamischen Gebote und qur’anischen Verse auf der Grundlage dieser Tradition und Kultur interpretiert und übersetzt wurden. So können wir auch heute beobachten, dass viele Verhaltenweisen, Taten und Sichtweisen als islamisches Gebot, Gesetz und islamische Ansicht dargestellt werden, obwohl sie keinerlei Beziehungen mit dem Islam haben, sondern allein das Ergebnis der herrschenden Kultur in verschiedenen islamischen Gesellschaften sind und manche von denen der islamischen Lehre sogar diametral gegenüberstehen. In der heutigen Ansprache soll die Begegnung des Islam mit den Aussagen der ¹ÁhilÍya und die damit einhergehende Wertediskussion unser Thema sein. Die Begegnung des Islam mit der Kultur der ¹JÁhilÍya Der Islam ist in einer solchen Gesellschaft, d. h. in einer Gesellschaft mit der Kultur und Moral der ¹ÁhilÍya erschienen, und deshalb war seine wesentliche Aufgabe die Bekämpfung dieser Kultur und das Bewirken von Veränderung und Wandel in Elementen dieser Gesellschaft in aller Deutlichkeit. Der Islam hat der Parole „al-½arb“ d. h. Krieg, „Islam“ und „al-Èol½ al-¿ayr“ d. h. „der Frieden ist besser
als alles“ gegenübergestellt.[1] Statt Sklaverei und Rassismus hat er mit aller Deutlichkeit die Gleichheit und gemeinsame menschliche Persönlichkeit aller Menschen betont, er hat die geschlechtsspezifische Sichtweise des Menschen verneint und Frau und Mann als von einem menschlichen und gleichen Wesen und vom gleichen Schatz geschaffen erklärt, wie in Sure al-¼uºurÁt, Vers 13, geschrieben steht: „O ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget….“ (Deshalb verursachen Rasse und Nationalität keinen Vorteil für den einen oder anderen, sondern nur diejenigen, die fromm sind, sind bei Gott angesehen.). Der Prophet des Islam (Friede sei mit ihm) hat gesagt: „O Menschen, unsere Eltern sind eins, und kein Volk und keine Rasse hat einen Vorteil gegenüber einem anderen Volk oder einer anderen Rasse, weder die Weißen gegenüber den Farbigen, noch die Farbigen gegenüber den Weißen, weder Araber gegenüber Nichtarabern, noch Nichtaraber gegenüber Arabern.“ Wenn sich die Frag von Rache stellte, hat er nicht nur das Verzeihen hervorgehoben, sondern mit aller Deutlichkeit erklärt, dass das Zeichen des Glaubens darin liegt, das Gute zu wiederholen, damit man die Wurzel der schlechten Dinge beseitigt, wie in Sure ar-Raþd, Vers 22, und in Sure al-QaÈÁÈ, Vers 54, geschrieben steht: Wissende Menschen versuchen, mit guten Taten das Schlechte zu verhindern und zu beseitigen.[2] Angesichts von Überschreitungen und Ignorierung der individuellen und gesellschaftlichen Rechte der Menschen betonen sie ernsthaft die Gerechtigkeit und die Berücksichtigung der Rechte der anderen und sehen das als notwendige Voraussetzung für Gottesfurcht an: …Seid gerecht, das ist der Gottesfurcht näher.“ (Sure al-MÁ’ida, Vers 8). In einer historischen Überlieferung, die von der Begegnung des Propheten des Islam mit zwei führenden Persönlichkeiten des Stammes ¾asraº (dem größten nichtmuslimischen Stamm) berichtet, werden die Hauptelemente seiner Einladung und Botschaft in zwei Versen vom Qur’an erwähnt (vgl. Sure al-AnþÁm, Verse 151 und 152): O Prophet, sprich zu den Menschen: ‚Kommt her, ich will euch erklären, was Gott euch verboten hat. Ihr sollt niemanden neben Gott stellen und zu euren Eltern gütig sein, und ihr sollt eure Kinder nicht wegen Armut töten. Wir werden euch und sie ernähren. Und ihr sollt euch keinen Schändlichkeiten nähern. Und ihr sollt keinen Menschen, der Gott ehrt, töten, es sei denn, er hat es verdient. Das ist etwas, zu dem Gott euch einlädt. Vielleicht versteht ihr. Ihr sollt euch nicht dem Reichtum der Waisen nähern, es sei denn zu ihrem Besten, bis sie volljährig sind. Und berücksichtigt volles Maß und Gewicht in Gerechtigkeit. Wir belasten niemanden über das hinaus, was er zu leisten vermag. Wenn ihr redet, sollt ihr Gerechtigkeit üben, auch wenn es einen nahen Verwandten betrifft, und bleibt dem Vertrag mit Gott treu. Das ist etwas, was Gott euch empfiehlt, damit ihr euch an eure Verantwortungen erinnert.’ Wie Sie sehen, werden in diesen Versen moralische Werte sehr hervorgehoben, Werte, die in der damaligen Gesellschaft in Vergessenheit geraten waren. Der Qur’an und der Prophet des Islam haben bei der Bekämpfung und Verneinung der Kultur der Torheit viele Erfolge gehabt. In Wirklichkeit war jedoch die historische Verwurzelung dieser Kultur in der gesellschaftlichen und individuellen Moral der Leute so beherrschend, dass sie sich im Prozess des anfänglichen Verstehens und der Interpretation des Qur’an bedauerlicherweise aufgedrängt hat. Man kann mit Sicherheit sagen, dass viele Interpretationen und Offenbarungsanlässe, die für manche Qur’anverse angeführt wurden, dieser Gefahr ausgesetzt waren, d. h. der Gefahr der Beeinflussung von der aus der Zeit der Torheit verbliebenen gesellschaftlichen und individuellen Moral. Aus diesem Grund kann man das Verständnis der vom Qur’an anfänglich Angesprochenen, d. h. die Gefährten des Propheten (Èa½Ábah) und diejenigen, die diese Gefährten kannten, den Propheten jedoch nicht mehr erlebten, (tÁbeþÍ) absolut und bedingungslos als gültigen Beweis bei der Interpretation der Qur’anverse heran
ziehen,[3] denn man kann niemals sicher sein, dass diese Leute die Qur’anverse frei von den äußerlichen Einflüssen und der Tradition und Kultur ihrer Zeit so verstanden haben, wie der Hauptverkünder selbst sie verstanden wissen wollte. Die Einmischung und Beeinflussung des Verstehens und der Interpretation der qur’anischen Verse von Stammeskulturen und -traditionen bezieht sich nicht nur auf die anfänglich Angesprochenen des Qur’an, sondern dieser Prozess hat sich in den späteren Epochen mehr oder weniger fortgesetzt. Zweifellos leiden viele Dinge, die als islamische Lehre oder islamisches Verständnis und Interpretation des Qur’an dargestellt werden, unter dieser Gefahr der Vermischung. Deshalb muss man Mut zeigen und sich bemühen, den Prozess der Reinigung und Differenzierung mit aller Ernsthaftigkeit zu verfolgen. Diese Thematik wollen wir in der nächsten Freitagsansprache mit einem Blick auf das Verständnis und die Harmonie des Islam mit unterschiedlichen Kulturen. Am Ende sehe ich mich leider gezwungen, mein tiefes Bedauern über das blutige Ereignis in Kerbala zu erwähnen. Es ist sehr schmerzlich, zu sehen, dass manche im Namen der Religion das Blut unschuldiger Kinder, Frauen und Männer vergießen. Kann man die Taten dieser kriminellen Terroristen dem Islam, der qur’anischen Lehre und dem Propheten des Islam vorwerfen? Einem Islam, der sogar den Tieren in der Form gerecht wird, dass man im Falle, dass man das Fleisch dieser Tiere zum Verzehr nutzen möchte, Dutzende von Bedingungen berücksichtigen muss, dass man z. B. das Tier nicht quälen darf und es so geschlachtet werden muss, dass es keine unnötigen Schmerzen hat, dass man es nicht vor anderen Tieren töten soll. Es wurde sogar darauf hingewiesen, dass man Tiere, die man längere Zeit als Haustiere hatte, nicht schlachten soll und Dutzende anderer derartiger Empfehlungen. Kann man diese Verbrecher Muslime nennen? Kann man sie überhaupt grundsätzlich als Menschen bezeichnen?! Über alle diese Verbrecher, die tagtäglich Katastrophen im Irak verursachen und wie am vergangenen Dienstag gleich Wilden Menschen töten, oder Verbrechen wie am 11. September, am 11. März in Madrid oder in London verüben, kann man ohne zu zögern sagen, dass sie von der islamischen Moral und Kultur nichts wissen, sondern dass sie vielmehr ein Symbol und Beispiel für die unmenschliche Moral der Zeit der Torheit, der ¹ÁhilÍya, sind. Der Islam ist grundsätzlich gekommen, um solchen Menschen zu begegnen und ihr Verhalten zu bekämpfen, die in der Zeit der ¹ÁhilÍya die Parole „Krieg, Krieg!“ gerufen haben und sich für das Blutvergießen an ihren Mitmenschen ereifert und nichts anderes getan haben, als zu töten. Ich schließe in der Hoffnung, dass eines Tages alle Erscheinungen der Unmoralität der ¹ÁhilÍya von der ganzen Welt verschwinden und menschliche Moral, Frieden und Freundschaft zwischen den Menschen herrscht. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.
[1] Sure an-NisÁ’ (4), Vers128.[2] Bei der deutschen Übersetzung für „yadra’Ún“ wird normalerweise der Begriff „abwehren“ benutzt. Das ist ein passendes Äquivalent. Man muss nur den Punkt beachten, dass das Wort „abwehren“ unterschiedlich benutzt wird, und dass es zuweilen sogar die Bedeutung von „beseitigen“ und „Beseitigung“ hat. Diese beiden letzten Worte bedeuten „etwas ausrotten“ und man muss berücksichtigen, dass in der arabischen Sprache zwischen den drei Begriffen Beseitigung, abwehren und ausrotten genaue und grundsätzliche Unterschiede vorhanden sind. Für den ersten Begriff benutzt man das Wort „raf“, und für die beiden nächsten Worte den Begriff „daf“. Das Wort „dar“ hat ebenfalls die gleiche Bedeutung wie „daf“. „Raf“ benutzt man z. B. beim Befreien der Erdoberfläche von Unkraut. Aber „daf“ bedeutet, dass man bestimmte Maßnahme trifft, damit solches Unkraut überhaupt nicht wächst, oder wenn es wächst, dass es ausgerottet wird und nicht erneut wächst.Der Qur’an hat als Antwort auf Schlechtigkeiten das Gute betont und hat den Begriff „dar’“ d. h. ausrotten, benutzt. D. h. „dar’“ unterscheidet sich von „raf“, d. h. die Ausrottung der Schlechtigkeiten und die Beseitigung der Möglichkeit, dass sich das nochmals wiederholt, durch Wiederholung der guten Taten; d. h. eine gute Tat soll nicht ein- oder zweimal wiederholt werden, sondern sie soll so oft wiederholt werden, dass das nochmalige Erscheinen der Schlechtigkeit völlig beseitigt wird. Deshalb sagt der Qur’an hier nicht, dass man die Schlechtigkeit mit guten Taten beantwortet soll, sondern vielmehr, dass man die Schlechtigkeit mit mehrmaligen guten Taten ausrottet. Deshalb erscheint aus dieser Sicht der deutsche Begriff „abwehren“ als passendes Äquivalent für den Begriff „dar“ unter der Bedingung, dass man darauf achtet, dass Abwehren hier in der Bedeutung von „daf“ benutzt wurde und nicht in der Bedeutung von „raf“. In der deutschen Sprache wird der Begriff „raf“ normalerweise im Sinne von „Beseitigung“ benutzt, und wenn man etwas mit der Wurzel beseitigen will, gebraucht man den Begriff „entfernen“ oder „ausrotten“. Aber in Wirklichkeit werden in vielen Fällen diese genauen und entscheidenden Unterschiede nicht berücksichtigt, und jedes Wort wird für das andere Wort benutzt. Bei der Übersetzung des Qur’an muss man jedoch darum bemüht sein, die Absicht und das Ziel des Sprechers festzustellen, und deshalb ist die Beachtung dieser entscheidenden Unterschiede sehr wichtig.[3] Den Aspekt des „anfänglichen“ Verständnisses von heiligen Quellen gibt es in allen Religionen und ist von grundlegender Bedeutung. So gründet z. B. das heutige Christentum auf dem ursprünglichen Verstehen und der Interpretation der Jünger Jesu und derjenigen, die ihn verstanden haben.Im Islam wurde diese Frage in unterschiedlichen Formen und Kontexten untersucht, wobei einer der wichtigsten Aspekte die Teilhabe des anfänglichen Verstehens der Offenbarungsanlässe war. Es gibt viele historische Überlieferungen von Prophetengefährten, die Begriffe und auch Verse interpretiert haben (d. h. sie haben die Verse erklärt und dafür äußerliche und objektive Beispiele genannt). Diese Überlieferungen wurden von dem Propheten nahe stehenden Personen weitergegeben, d. h. denjenigen, die die anfänglich Angesprochenen des Qur’an waren; aber inwieweit man sich bei der Bestimmung der Hauptabsicht des Qur’an darauf verlassen ist zwischen den islamischen Gelehrten umstritten.Viele sunnitische Gelehrte bezeichnen die Überlieferungen der Prophetengefährten über die Offenbarungsanlässe als „Hadithe marfuþ“, und das bedeutet, dass man diese Überlieferungen sogar neben die Überlieferungen vom Propheten des Islam stellt, denn weil die tradierten Überlieferungen vom Propheten ein verlässlicher Beweis sind, wird den Überlieferungen seiner Gefährten zum Offenbarungsanlass die gleiche Gültigkeit zugeschrieben. Aber in Wirklichkeit kann die Äußerungen der Gefährten und anfänglich vom Qur’an Angesprochenen niemals absolut und bedingungslos akzeptieren. Zweifellos können diese Überlieferungen Hilfe leisten für ein besseres Verständnis und eine genaue Interpretation der Verse. Man muss jedoch berücksichtigen, dass ihr Qur’anverständnis gänzlich menschlicher Natur ist, das wie das Verständnis eines jeden Menschen von verschiedenen Ursachen beeinflusst werden und von gewissen Abweichungen begleitet sein kann; deshalb kann man ihr Verständnis niemals als eine Art heiliges Verständnis und frei von jeder Art von Fehler ansehen. Aber weil sie dem Propheten näher standen, den Qur’an direkt und aus der Nähe gehört haben und in anderen Zeit- und Lebensumständen lebten, bietet ihr Verständnis im Vergleich zu den später vom Qur’an Angesprochenen mehr Möglichkeiten, die wahre Bedeutung der Verse zu entdecken. Folglich kann man das nicht ignorieren und gleichzeitig kann man das auch nicht absolut annehmen und für heilig erklären, insbesondere da es viele unterschiedliche Gründe gibt für ein falsches Verständnis und Fehlinterpretation von Gefährten und anfänglich vom Qur’an Angesprochenen, so dass ein und dieselbe Person zuweilen unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Interpretationen von einem Vers gegeben hat. Abgesehen davon waren manche von denen, die Interpretationen angeboten haben, bei der Offenbarung der Verse entweder gar nicht dabei oder haben nur einen kurzen Lebensabschnitt des Propheten miterlebt.Andere wiederum, die zu den Unterstützern des Propheten in Medina gehörten, haben sich zum Offenbarungsanlass der mekkanischen Verse geäußert. Für weitere Informationen s. Tafsir al-ManÁr (Raschid Reza), Bd. 1, (Vorwort) und Bd. 2, S. 11) und al-MizÁn (Allamah S. M. Hossein Tabatabai), Bd. 3, S. 87. und Der Qur’an im Islam (Allameh Tabatabai) S. 118.