Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In den vergangenen Freitagsansprachen haben wir über die Methode des Verstehens und der Exegese des Qur’an gesprochen und dabei festgestellt, dass das Verstehen der wesentlichen Botschaften des Qur’an fachspezifisches Bewusstsein und eine tiefe Kenntnis von der Sprache des Qur’an sowie der Untersuchung der Gesamtheit der Verse bedarf. Hier muss ich eine wichtige Wahrheit erwähnen, und zwar dass in vielen Fällen die wahre Botschaft des Qur’an durch falsches Verständnis und falsche Exegese verborgen geblieben ist, so dass das, was als Stimme des Qur’an bekannt wird, von der wesentlichen Botschaft des Qur’an sehr weit entfernt ist oder ihr zuweilen ganz widerspricht – eine Gefahr, die der Qur’an selbst erwähnt.[1] Oftmals wurden dem Qur’an je nach Geschmack Wahrnehmungen, Traditionen und persönliche, Gruppen- und Volksinteressen zugeschrieben und als Botschaft und Stimme des Qur’an vorgestellt. Man muss zweifelsohne annehmen, dass viele bekannte Übersetzungen und Kommentare von einigen wichtigen und entscheidenden Qur’anversen diesem Schädling ausgesetzt sind. Unter Berücksichtigung der zuvor erwähnten Methodologie (für das Verständnis und die Exegese des Qur’an) bedarf es deshalb einer ernsthaften Überprüfung der Übersetzung und Exegese des Qur’an, und zwar insbesondere der Verse, die die gesellschaftlichen Verbindungen und Beziehungen erklären. Auf der Grundlage dieser Absicht und Sichtweise werden wir deshalb in den nächsten Freitagsansprachen einige qur’anische Begriffe und Ausdrücke untersuchen und deren wahre Bedeutung im Qur’an herauskristallisieren. Erklärend muss jedoch vorausgeschickt werden, dass wir in diesen Ansprachen keine allumfassende tiefgründige fachmännische Diskussion führen können und gezwungen sind, bei diesen Diskussionen auf einige Prinzipien und Grundregeln zurückzugreifen, die im Kontext spezifischer Thematiken bewiesen wurden. Der Begriff Unglaube und Ungläubige im Qur’an Die Begriffe Unglaube und Ungläubige sind zwei wichtige Begriffe, die zusammen mit den von ihnen abgeleiteten Begriffen im Qur’an oft Verwendung finden, was für viele theologische Lehren und Bot-schaften und auch religiöse und gesellschaftliche Lehren und Botschaften im Qur’an eine entscheidende und wichtige Funktion hat. Jede Art der Exegese und Interpretation dieser zwei Begriffe kann diese Lehren und Botschaften gründlich und strukturell beeinflussen (d. h. abhängig davon, was Unglaube und Ungläubige bedeutet und wie sie interpretiert werden, werden die qur’anischen Botschaften und Lehren in den zuvor genannten Bereichen grundsätzliche und prinzipielle Veränderungen erfahren). Dem Verständnis von vielen Muslimen und auch Nichtmuslimen nach ist eine Wahrnehmung und ein Glauben außerhalb des Islam und der qur’anischen Lehren gleichbedeutend mit Unglaube, und demnach werden die Nichtmuslime, die nicht an den Islam und den Qur’an glauben, als Ungläubige bezeichnet. Wir müssen jedoch sehen, ob oder wie weit eine solche Definition und Interpretation von Unglauben und Ungläubigen mit der qur’anischen Lehre übereinstimmt? Nennt der Qur’an die Andersdenkenden und die Anhänger anderer Religionen tatsächlich ungläubig? Selbstverständlich ist die einzige legitime Quelle, die diese Frage beantworten darf, der Qur’an selbst. Grundsätzlich gilt, dass die im Qur’an verwendeten Begriffe nicht immer und in allen Fällen in der üblichen und wortwörtlichen Bedeutung der Begriffe gebraucht wurden, sondern der Qur’an, der den Diskurs einer neuen Kultur und eines neuen Denkens auf der Grundlage der göttlichen Botschaft und Theologie begründet hat, hat natürlich diesem Diskurs entsprechend die wortwörtliche Bedeutung der Begriffe verändert und sie in unterschiedlichen Bedeutungen benutzt. Was wichtig ist, ist die Untersuchung und Kenntnis der neuen Begriffe, die in der Kultur und Literatur des Qur’an Anwendung gefunden haben. Bei den Begriffen Unglaubenund Ungläubige können wir bei deren qur’anischer Untersuchung als ersten Punkt festhalten, dass die beiden Begriffe Unglauben und Glauben einen grundlegenden Widerspruch und Gegensatz darstellen. Diese Widersprüchlichkeit und dieser Gegensatz gehen so weit, dass „der an Gott Glaubende“ als „Ungläubiger im Hinblick auf den Teufel“ bezeichnet wird.[2] Folglich gelangt man zu dem Ergebnis, dass der Unglaube negiert wird und es keine Spur davon gibt, wo der Glaube bewiesen wird, und umgekehrt verschwindet der Glaube da, wo der Unglaube bewiesen wird. In den kommenden Freitagsansprachen werden wir ausführlich auf die unterschiedlichen Stufen und Ränge des Glaubens eingehen, und selbstverständlich hat auch der Unglaube, der das Gegenteil vom Glauben ist, unterschiedliche Stufen und Ränge. Demnach haben Glauben und Unglauben in diesem Fall eine relative Bedeutung, die unterschiedlich verstanden wird, wie wir in Zukunft weiter ausführen werden. Aber abgesehen von der relativen Bedeutung von Glauben und Unglauben haben diese auch eine absolute Bedeutung, und wir diskutieren hier die absolute Bedeutung des Unglaubens. Aber ein wichtiger Punkt bei der grundsätzlichen Untersuchung der qur’anischen Verse vom Anfang bis zum Ende ist der, dass die neue und andere Benutzung von Unglauben im Qur’an keine rein theologische Bedeutung impliziert, sondern dieser Begriff wurde im Qur’an in zwei grundsätzlichen Bedeutungen benutzt, von denen nur eine theologischer Natur ist und die andere Bedeutung vollkommen untheologisch ist. Der überzeugte und theologische Unglaube im Qur’an Das Thema überzeugter und theologischer Unglaube ist dreierlei Natur, und drei Gruppen werden als überzeugte Ungläubige bezeichnet:
- Diejenigen, die nicht an Gott und den Schöpfer des Universums glauben und Ihn leugnen. „Wie könnt ihr Gott leugnen und nicht an ihn glauben, obwohl ihr keinen Nutzen vom Leben hattet und Er euch das Leben geschenkt hat…“ (Sure al-Baqara, Vers 28).
- Diejenigen, die nicht an göttliche Propheten glauben: „diejenigen, die nicht an Gott und Seine Gesandten glauben.“ (Sure an-NisÁ’, Vers 150). Der wichtige Punkt bei diesem Vers ist, dass Gott die Verleugnung aller Seiner Propheten als Kufr (Unglauben) bezeichnet hat und nicht nur die Leugnung eines bestimmten Propheten. Diesen Punkt werden wir im weiteren Verlauf noch genauer ausführen.
- Die letzten Gruppierungen, die der Qur’an als überzeugte Ungläubige bezeichnet, sind diejenigen, die das Jenseits und die Auferstehung leugnen. „Diejenigen, die ungläubig sind, sagen: Es besteht uns keine Auferstehung bevor.“… (Sure SabÁ’, Vers 3).
Abgesehen von diesen drei Gruppen wird an keiner Stelle im Qur’an einer anderen Gruppe überzeugter (theologischer) Unglauben vorgeworfen. Die soziologische Bedeutung von Unglauben Neben der bereits erwähnten theologischen Bedeutung von Kufr (Unglauben) hat dieser Begriff im Qur’an auch eine soziologische oder soziale Bedeutung, in der kein theologisches Element berücksichtigt wird. D. h. wenn im Qur’an eine Gruppe als ungläubig (im soziologischen Sinne) bezeichnet wird, dann ist damit niemals der Glaube oder Unglaube im Hinblick auf theologische Themen wie z. B. Gott, Prophetentum oder Jenseits gemeint, sondern er bezieht sich auf das Verhalten und die Taten dieser Gruppe. Im Qur’an wird in vielen Fällen von denjenigen geredet, die die Gläubigen nicht ertragen können und ihnen feindlich gesinnt sind und sie deshalb mit aller Macht, allen Möglichkeiten und jeder Form bekämpfen, um sie von ihrem Glauben abzubringen. Sie nutzen dabei jede Möglichkeit, sei es Beleidigung oder dass sie die Gläubigen zwingen, ihre Städte und Häuser zu verlassen oder deren Frauen und Kinder und letztlich auch sie selbst töten. Diese feindselige und feindliche Auseinandersetzung kann mit verschiedenen Absichten wie z. B. politischen, wirtschaftlichen oder sozialen verbunden sein. D. h. diese Gruppe bekämpfte die Gläubigen, weil sie ihre eigenen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Vorteile durch die neue Religion und die Gedanken, die der Prophet propagierte, gefährdet sahen. Einzig und allein aus dem Gedanken heraus, dass sie ihre persönlichen Vorteile durch die anders denkenden Gläubigen in Gefahr sahen, haben sie sich mit diesen verfeindet. Dabei waren jene, die die Gläubigen bekämpft haben, selbst nicht gläubig und hatten nicht aus ihrem religiösen Denken heraus Meinungsverschiedenheiten mit den neuen Muslimen, sondern ihr Verhalten war von materiellen Absichten beeinflusst und sie glaubten grundsätzlich nicht an eine besondere Religion. Aber der Qur’an erwähnt auch, dass es durchaus Anhänger mancher Religionen gab, die mit solchen Gruppierungen zusammengearbeitet haben, und zwar weil sie aufgrund ihrer Unwissenheit fälschlicherweise davon ausgegangen sind, ihre Religion stärken zu können, indem sie die Gegner, d. h. die neuen Muslime unterdrücken wollten und Feindschaft und Gewalt gegen sie anwendeten. Wenn also die Feinde der Gläubigen unterschiedliche Absichten hatten (d. h. mit ihrer Gegnerschaft gegenüber den Muslimen und Gläubigen, die anders gedacht haben, keine gemeinsame Absicht verbanden), haben sie aber dennoch alle ein gemeinsame Ziel gehabt, und zwar die Vernichtung der Gläubigen, die anders dachten als sie selbst, und die Vernichtung der neuen Religion bis auf ihre Wurzeln. Folglich war ihre feindliche Absicht keine religiöse Absicht, sondern das Ziel war die Vernichtung der Anhänger der neuen Religion. Jeder von ihnen hat eine andere Absicht und einen anderen Grund für sich. In der qur’anischen Terminologie werden diese Gegner als ungläubig und ihre Tat als Unglaube bezeichnet. Diese Bezeichnung bedeutet jedoch nicht, dass sie den Islam nicht akzeptiert haben, oder dass sie die Anhänger einer anderen Religion waren, sondern wie bereits gesagt wurde, ist bei dieser Art der Bezeichnung grundsätzlich überhaupt nicht die Rede von den Überzeugungen und dem Glauben dieser feindseligen Gruppe, sondern einzig ihr feindseliges Wesen und ihr Verhalten und ihre Taten waren der Maßstab. Ihr Tun wurde als Unglauben und sie selbst als Ungläubige bezeichnet, weil sie den Anhängern der neuen Religion (d. h. den Muslimen) feindlich gesinnt waren, sie töteten und unterdrückten, nur weil diese anders gedacht und die Botschaft des Islam angenommen haben. Unglaube und Ungläubige ist in dieser Bedeutung ein besonderer qur’anischer Ausdruck, der jedoch nicht gänzlich losgelöst ist von der zuvor dargelegten wortwörtlichen Bedeutung der Worte. Der Qur’an sagt in aller Deutlichkeit, dass die wichtigste Besonderheit dieser Ungläubigen die Anwendung von Gewalt gegen die anders denkenden Gläubigen ist, um sie dadurch von ihrem Glauben abzubringen. Deutlicher ausgedrückt: Jede Art der Feindschaft und der Anwendung von Gewalt, damit die Gläubigen von ihrem Glauben ablassen, wird in der speziellen Terminologie des Qur’an als „Unglauben“ bezeichnet. Deshalb ist das entscheidende Hauptelement bei diesem Ausdruck die feindselige Tat und nicht die theoretische und auf dem Glauben beruhende Gegnerschaft. Folglich war einerseits kein theologisches und auf dem Glauben beruhendes Element beteiligt, und andererseits weisen die feindseligen Taten unterschiedliche Stufen von Stärke und Schwäche auf. In diesem Sinne können sogar manche Verhaltensweisen und Taten von Muslimen ein Zeichen des Unglaubens sein, wie Gott im Qur’an in aller Deutlichkeit im Hinblick auf manche Verhaltensweisen der Muslime mahnt, dass sie durch dieses Verhalten mit Unglauben konfrontiert werden.[3] Deshalb ist der soziologische Unglauben sogar mit Glauben und theoretischer Überzeugung vereinbar. Und deswegen kann sowohl ein Muslim wie auch ein Nichtmuslim, der Anhänger einer anderen göttlichen Religion ist, oder auch jeder andere, der überhaupt nicht an Gott und eine bestimmte Religion glaubt, einem solchen Unglauben ausgesetzt sein.[4] In diesem Sinne wird der Unglaube als soziologischer praktischer und nicht als theologischer Begriff betont. Als Ergebnis können wir mit aller Deutlichkeit und allem Nachdruck festhalten, dass nirgendwo im Qur’an die Begriffe Unglauben oder Ungläubige auf die Nichtmuslime angewendet werden, nur weil sie Nichtmuslime sind und den Islam nicht angenommen haben, und keine der beiden genannten Formen, d. h. weder der theologische noch der soziologische Unglaube beziehen sich auf Nichtmuslime. Aus qur’anischer Sicht sind sogar die Götzendiener, die nicht an Tauhid, d. h. die Einheit des Schöpfers des Seins glauben, gemäß den genannten Bedeutungen von Unglauben nicht ungläubig, und dass die Nichtmuslime (d. h. die Anhänger anderer Religionen) ungläubig genannt werden, hat niemals seine Wurzeln im Qur’an und den Lehren des Propheten des Islam, sondern in historischen Gründen, und bis zu einer gewissen Grenze hat die wortwörtliche Bedeutung von Unglauben bei der Verbreitung dieses Ausdrucks geholfen, was ich in Zukunft ausführlicher besprechen werde. Aus dieser Untersuchung geht hervor, inwieweit wir mit den Lehren des Qur’an tief vertraut werden müssen. Für unsere richtige und reine Kenntnis (rein von jeder Abweichung und fern von jeder Vermischung mit falscher und persönlicher Exegese) von der qur’anischen Botschaft bedürfen wir der Rückkehr zum Qur’an, damit wir die Antworten auf unseren Fragen vom Qur’an selbst bekommen. Wo wir uns Unklarheiten gegenüber sehen, sollen wir uns an die klare Sunna wenden, die den Qur’an erklärt. Der Qur’an soll durch den Qur’an selbst gekannt werden und nicht durch geschichtliche und volkstümliche Gedanken, nichtqur’anische Überzeugungen oder persönliche Exegesen. In den kommenden Freitagsansprachen werden wir die Arten und Besonderheiten des soziologischem Unglaubens und auch die Sicht des Qur’an auf die Nichtmuslime und Anhänger der anderen Religionen ausführlich besprechen. Abschließend möchte ich im Hinblick auf die Erdbebenkatastrophe in Indonesien, bei der viele unserer Schwestern und Brüder ums Leben gekommen sind allen Betroffenen unsere aufrichtige Anteilnahme aussprechen. Wir bitten alle Schwestern und Brüder im Rahmen ihrer Möglichkeiten um eine Spende für die Hinterbliebenen. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen. [1] Sure Àl-þImrÁn, Vers 7.[1][2] Sure al-Baqara, Vers 256. [3] Sure al-Baqara, Vers 217.[4] Sure al-¼aÊr, Vers 2; Sure al-Bayyina, Verse 1 und 6.