Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen seien mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.Zu Beginn möchte ich Ihnen zum gesegneten Geburtstag des großartigen Propheten des Islam (s.a.s.)und seines Nachkommen, Hazrate Imam Sadiq (a.s.), gratulieren. Die beste Art der Verherrlichung vom Propheten besteht darin, dass man seine Lehren und Ziele kennt und praktiziert, wie der Qur’an sagt: „O Mohammad, sag den Menschen: ‚Wenn ihr Gott liebt, sollt ihr mir (da ich Sein Botschafter bin) folgen, und Gott wird euch lieben’“ Wir haben in der vergangenen Freitagsansprache über die Mechanismen der Qur’aninterpretation gesprochen und erwähnt, dass man bei der Interpretation des Qur’an grundsätzlich alle Verse berücksichtigen soll. Im Zusammenhang mit dieser Thematik ist es passend, auf die Systemtheorie zu verweisen. Niklas Luhmann hat den größten Anteil an der Gestaltung der Systemtheorie. Er sagt: „Die Welt ist nichts, was man von einem Blickwinkel aus interpretieren könnte.“ Die systematische Sicht des Qur’an lehrt uns, dass man die qur’anische Botschaft nicht mit einem oder ein paar voneinander getrennten Versen interpretieren kann. Ohne Herauskristallisierung der Verbindung zwischen den Versen und ohne Kenntnis von den Strukturen und grundsätzlichen Systemen der Verse, kann man zu keiner legitimen und akzeptablen Bedeutung und Interpretation der qur’anischen Verse gelangen. Selbstverständlich sind die Beziehungen der Verse nicht im Hinblick auf alle Verse im gleichen Maße bedeutsam. Es gilt jedoch, diese Verbindung zu erkennen und herauszukristallisieren, damit man sicher und überzeugt sein kann, dass die gefundene Bedeutung dem entspricht, was dieser Vers besagen will. Es wurde gesagt, dass Gott eine Interpretation der qur’anischen Verse, die auf dem persönlichen Geschmack des Menschen beruht, mit allem Nachdruck ablehnt; auch der Prophet des Islam hat diese Art der Interpretation als individuelle Auslegung bezeichnet und abgelehnt, und demjenigen, der so etwas tut, ist die Strafe Gottes versprochen. Diese Erklärung macht deutlich, welches die wichtigsten Formen der individuellen Interpretation sind. Dazu gehören die Interpretationen, die diese tiefe Bedeutung der Beziehungen der Verse nicht gefunden haben, die außerhalb der grundsätzlichen dominanten Systeme sind, und die einen Teil des Qur’an herausnehmen und nur mit diesem Teil argumentieren, während sie den restlichen Teil ignorieren und vergessen. Solche Interpretationen gehören alle zu den individuellen Interpretationen des Qur’an.Aber es stellt sich die Frage, wie man die auf die Verse herrschenden Systeme erkennen kann, damit man mit deren Hilfe die Interpretation und die tiefe Bedeutung der Verse herauskristallisieren kann. Das ist eine wichtige Frage an sich, deren Beantwortung ein ausführliches und eigenständiges Thema ist, das in der Kürze der Zeit hier nicht erläutert werden kann. Aber ich möchte nur sehr kurz erwähnen, dass man für das Erkennen und Entdecken der über die Qur’anverse herrschenden Systeme eine genaue Kenntnis von den eindeutigen und mehrdeutigen Versen im Qur’an benötigt. Wie bereits gesagt wurde, hat Gott einige Verse im Qur’an als mo½kam, d. h. eindeutige Verse bezeichnet, und diese gelten als Mutter und wesentlicher Teil des Buches. Im Unterschied dazu gibt es die mehrdeutigen, d. h. die mutaÊabih-Verse. Der Begriff „umm“ bedeutet Mutter, und dieser Begriff wird in der arabischen Sprache in solchen Fällen benutzt, in denen man das Hauptprinzip, die Grundlage und den Maßstab für etwas anderes aufzeigen will; genauso wie sich die Wurzeln der Kinder auf die Mutter beziehen. Jede Sache und jede Person, die diese Funktion für die anderen erfüllt, wird „umm“ oder Mutter genannt. Andererseits wurde gesagt, dass im Qur’an der Begriff des „Buches“ nur auf die Gesamtheit der göttlichen Botschaft bezogen ist, und deshalb kann man diesen Begriff nicht für einen Teil von Gottes Wort benutzen. Folglich kann man aus der Tatsache, dass Gott die mo½kam-Verse als „Umm-ul-KitÁb“ bezeichnet, einige wichtige Punkte ableiten: 1. Im Qur’an gibt es einige Verse, die den Rahmen und das Fundament des qur’anischen Denkens und der qur’anischen Botschaft bilden. Dieses Fundament ist der Maßstab und lenkt die tiefe Bedeutung der Gesamtheit des Qur’an.2. Indem Gott die Gesamtheit des Qur’an in zwei Kategorien unterteilt, nämlich eindeutige und mehrdeutige Verse, wird deutlich, dass jene Verse, die nicht als mo½kam-Verse gelten, folglich mutaÊabih-Verse sind. Ganz am Anfang kann man feststellen, dass die Anzahl der mehrdeutigen Verse viel höher ist als die Anzahl der eindeutigen Verse, und das entspricht vollkommen dem Verhältnis zwischen Neben- und Hauptprinzipien. Das Hauptprinzip, das die Quelle für die Nebenprinzipien und Zweige ist, beinhaltet mehr Einschränkungen. Dieser Punkt zeigt die Wichtigkeit und Bedeutung der mo½kam-Verse und macht deutlich, dass das Herausfinden, die Herauskristallisierung und Zusammenstellung dieser Verse nicht so schwer ist. Dank dieser Erklärung ist es nicht mehr nötig, noch gesondert über die Bedeutung des Begriffes „mutaÊabih“ und welche Verse als solche gelten, zu diskutieren. D. h. sobald wir die mo½kam-Verse gefunden haben und kennen, werden dadurch natürlich auch die mutaÊabih-Verse bestimmt. Die mo½kam-Verse werden als Leitverse bezeichnet, weil sie als Leitlinien für die Interpretation und Bedeutung der anderen Verse fungieren und die Grundlage bilden für das Beurteilen der wesentlichen und endgültigen Botschaft des Qur’an. Sie reinigen im übertragenen Sinne das unklare Gesicht der anderen Verse vom Staub. Sie werden auch als Richtverse bezeichnet, denn die Wurzel des Begriffes „mo½kam“ ist „½ukm“, und das bedeutet wiederum Urteil, was die Bedeutung der mo½kam-Verse weiter unterstreicht. Die Leit- und Richtverse im Qur’an Unter Berücksichtigung der Eigenschaften, die wir für die Leitverse dargelegt haben, sind diese Verse von allgemeiner und endgültiger Natur, d. h. es sind grundsätzliche Regelungen, die den Geist und das wesentliche Ziel des Qur’an in verschiedenen Bereichen der Verbindungen und Beziehungen des Menschen erörtern. Endgültigkeit dieser Verse bedeutet, dass sie für keine bestimmte oder besondere Gegebenheit erörtert wurden, so dass eine Veränderung der Gegebenheiten eine Änderung dieses Gebotes bedeuten würde, sondern diese Verse haben eine langfristige und kontinuierliche Strategie im Hinblick auf den natürlichen und normalem Zustand zum Inhalt. Eine Veränderung des Zustandes käme z. B. einer Anmerkung zum entsprechenden Vers gleich. Mit der Herauskristallisierung und dem Verstehen der grundsätzlichen Regelungen, die in den Leitversen vorhanden sind, können wir tatsächlich die Botschaft und das endgültige und wesentliche Ziel des Qur’an in verschiedenen Bereichen der individuellen und gesellschaftlichen Existenz des Menschen wie z. B. Anbetung und Scharia, Familie und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft usw. herauskristallisieren. Würde und Gleichheit des Menschen unabhängig von Rasse und Religion, die Distanzierung von Gewalt und die Herrschaft des Friedens, die Bewahrung der Rechte der Anderen und gesellschaftliche Gerechtigkeit usw. sind die wichtigsten Regelungen, die im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen in den mo½kam-Versen vorhanden sind. Mit der Identifizierung und Erreichung dieser Botschaften und wesentlichen Ziele aus dem Inhalt des Qur’an und ihrer Darstellung als grundsätzliche Regelung bilden sie eine Struktur und ein System, in dem jede Art von Interpretation und Feststellung der Bedeutung der qur’anischen Verse stattfindet. Der Maßstab für die Richtigkeit und Falschheit der Bedeutung und Interpretation von Versen basiert auf der Übereinstimmung mit dieser grundsätzlichen Struktur und diesem System. Wenn wir also bei der Untersuchung der Gesamtheit des Qur’an feststellen, dass in mo½kam-Versen gesagt wird, „aÈ-Èol½ ¿ayr“, d. h. der Friede ist besser als alles andere, wie auch in Vers 208 der Sure al-Baqara gesagt wird: „O ihr, die ihr glaubt, tretet alle ein in den Frieden…“, wenn also eine solche Regel herauskristallisiert wird, dass Frieden und Freundschaft zwischen den Menschen eine grundsätzliche und wesentliche Botschaft des Qur’an im Bereich der menschlichen Beziehungen darstellt, dann bestätigen die anderen Verse des Qur’an die Bedeutung dieser grundsätzlichen Regel oder interpretieren sie als eine Art Anmerkung zu deren Details. Wenn im Gegensatz dazu die mehrdeutigen Verse eine den eindeutigen Versen widersprechende Bedeutung zu haben scheinen, dann ist das eine äußerliche Bedeutung, mit der man nicht argumentieren und auf die man nicht vertrauen kann. Um die wahre Bedeutung dieser mehrdeutigen Verse zu erkennen, muss man sich den mo½kam-Versen und grundsätzlichen Regelungen, die herauskristallisiert wurden, zuwenden (d. h. für die Interpretation dieser Verse muss man sich an die mo½kam-Verse oder andere grundsätzliche Verse wenden). Das ist diese Art der Interpretationsmethode, die durch das Gotteswort selbst legitimiert ist. Der Qur’an stellt in aller Deutlichkeit fest, dass die Menschen, die die Qur’anverse ausnutzen und Unruhe stiften wollen, diese Methode ignorieren und sich nicht an den mo½kam-Versen orientieren, die als Leitverse zum Urteilen und Bestimmen grundsätzlicher Regelungen gelten. Als Beispiel spricht der Qur’an von einer Gruppe von Menschen, die behaupten, gläubig zu sein, und obwohl sie an Gott glauben, ignorieren sie die Botschaft dieses göttlichen Buches, wonach Frieden und Freundschaft, Verzicht auf Gewalt, Achtung der Gerechtigkeit und die Bewahrung der Rechte der Anderen geboten sind, und begehen kriminelle und gewalttätige Verbrechen gegen andere Menschen. Der Qur’an sagt mit aller Deutlichkeit, dass die Taten dieser Gruppen zu verurteilen sind und verspricht ihnen die schlimmsten Bestrafungen: „…O ihr Gruppe, die ihr behauptet, gläubig zu sein: Erinnert euch, dass Gott mit euch einen Vertrag geschlossen hat. Und ihr seid verpflichtet, euch nicht gegenseitig umzubringen und euch nicht ungerecht zu behandeln. Ihr dürft euch nicht aus eurer Heimat und Städten vertreiben. Ihr habt diesen Vertrag von Gott akzeptiert und angenommen und seid selbst Zeuge dafür. Und obwohl ihr diesen Vertrag und das Versprechen mit Gott geschlossen habt, bringt ihr euch gegenseitig um und vertreibt eine Gruppe aus ihren Städten. Ein Teil von ihnen arbeitet in ihren schlechten Taten und ihrer Ungerechtigkeit gegen eine andere Gruppe mit anderen zusammen. Wenn sie jemanden als Geisel nehmen, verlangen sie für ihre Freiheit Belohnung; und obwohl Gottes Gebot die Vertreibung der Menschen aus ihren Häusern und Städten für euch verboten hat, haben sie sogar die Absicht, sie zu töten oder als Geisel zu nehmen. Glaubt ihr (für die Rechtfertigung eurer kriminellen und schlechten Taten) an einen Teil des Heiligen Buches und an einen anderen Teil glaubt ihr nicht? Deshalb ist die Strafe für diejenigen von euch, die solche Taten tun, nichts anderes als Erniedrigung im Diesseits, und im Jenseits werden sie die schlimmsten Strafen bekommen. Und Gott weiß alles, was ihr tut.“ (Vgl. Sure al-Baqara, Verse 84 und 85). Hier wird nochmals festgestellt, dass der Qur’an mit aller Deutlichkeit erwähnt, dass man im Widerspruch zur Hauptbotschaft des Qur’an Gewalt und Ungerechtigkeit nur rechtfertigen kann, indem man nur einen Teil des Qur’an betont und nur auf das Äußere des Qur’an achtet. Nach den oben zitierten qur’anischen Versen wird der Weg für die Beseitigung solcher Abweichungen genannt, nämlich die grundsätzliche Sicht und die Berücksichtigung der Gesamtheit der Verse. Die Wichtigkeit der grundsätzlichen Sicht beim Verstehen und Interpretieren des Qur’an geht so weit, dass manche wichtigen qur’anischen Begriffe und Ausdrücke nur richtig verstanden werden, wenn man sie in Verbindung mit der grundsätzlichen Sicht des Qur’an und im Zusammenhang mit der Bedeutung anderer Verse interpretiert. (D. h. die Bedeutung dieses Begriffes wird unter Berücksichtigung dieses Verses und der anderen Verse verstanden). Deshalb sollen nicht nur die Verse und Sätze im Qur’an, sondern auch die vielen Begriffe und Wörter als Glieder einer Kette verstanden werden, die miteinander verbunden sind. Es ist möglich, dass ein Wort alleine eine Bedeutung hat, aber wenn man dieses Wort oder diesen Begriff in einer Vielzahl von Sätzen und Gedanken untersucht, wird man möglicherweise feststellen, dass es eine ganz andere Bedeutung hat. Unglaube (kufr), Glaube (imÁn), Anstrengung auf dem Weg Gottes (ºihÁd), Freundschaft mit den Gläubigen (tawalla), Gutes (maþrÚf), Schlechtes (munkar) usw. gehören zu solchen Begriffen, die im Kontext der vorher erwähnten Strukturen ihre Bedeutung erlangen. Die Nichtbeachtung dieses Mechanismus’, dieser Strukturen und grundsätzlichen Regelungen verursacht, dass die qur’anischen Ausdrücke falsch verstanden werden, was wiederum in einer falschen Interpretation der Verse resultiert. Bei einer anderen Gelegenheit werden wir über das falsche Verständnis der qur’anischen Begriffe „Unglauben“ (kufr) und „Schlagen“ (±araba) sprechen. Abschließend möchte ich den christlichen Geschwistern zum Osterfest gratulieren. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.