Frankfurter Allgemeine ZeitungDas Oberhaupt der Schiiten in Deutschland/Von Christoph Ehrhardt HAMBURG, 9 April. Der Hollywoodfilm „Pulp Fiction“ sei ein gutes Beispiel, sagt der Ajatollah. Das gewalttätige Gangsterstück zeigt einen Mörder, der sich in seinem Tun auf eine Bibelstelle beruft. Er töte mit Leidenschaft, bis er erkenne, daß diese Bibelstelle eigentlich genau das Gegenteil meine, sagt Ajatollah Sejjed Abbas Hosseini Ghaemmaghami, seit Anfang 2004 Imam und Direktor des Islamischen Zentrums in Hamburg (IZH).-Er lächelt wissend. Der schiitische Geistliche mit dem Turban und dem gepflegten Vollbart ist noch keine vierzig Jahre alt – sehr jung für einen Ajatollah. Er spricht leise und bedächtig, scheint jedes Wort genau abzuwägen, bevor er seine (stets ausführlichen) Antworten formuliert. Am liebsten spricht er über die friedliche Natur des Islams – und darüber, wie dessen Quellen mißverstanden und mißdeutet werden.„Das ist ein sehr interessanter Punkt“, sagt er – angesprochen auf die bisweilen als „Schwert-Sure“ bezeichnete neunte Sure im Koran, die Kritiker oft als Beleg für das kriegerische Wesen des Islams anführen. Dann zählt er eine Vielzahl von Überlieferungen auf, in denen der Prophet Mohammed mit friedlichem Beispiel voranging. Gewalt anzuwenden sei nur zur Selbstverteidigung erlaubt. Nach den Terroranschlägen vor London im Juli 2005 hatte Ghaemmaghami – ais erster in Deutschland lebender Imam – Terrorismus und Gewalt in einem islamischen Rechtsgutachten (Fatwa) geächtet. „Alle Muslime sind aus religiöser Sicht verpflichtet, sich mit aller Kraft für die Ordnung und Sicherheit jener Gesellschaft einzusetzen, in der sie leben“, heißt es darin.Das sei keine taktische Erklärung gewesen, sondern eine klare Positionsbestimmung „aus der .Mitte des Islams“, sagt Ghaemmaghami. Er ist ein „Mudschtahid“, ein ranghoher Mullah, der den Koran und die religiösen Quellen selbständig auslegen und interpretieren darf. Die eigenständige Auslegung (Idschtihad) nimmt bei den Schiiten einen wichtigeren Platz ein als bei den Sunniten. Ghaemmaghamis Urteil ist, zumindest in der Theorie, für seine Anhänger bindend.Der Ajatollah stammt aus .einer bekannten Gelehrtenfamilie, die über 39 Generationen von einem Enkel des Propheten abstammt. Er hat unter anderem an der Theologischen .Hoch schule in Qom studiert – einer Elite-Hochschule in Iran. Auch Philosophie studierte er, einschließlich deutscher Philosophen wie Kant und den Heidegger-Schüler Gadamer. Zu seinen Freitagspredigten versammeln sich im prächtigen Gebetsraum. der 1961 nahe der Alster in bester Lage gebauten Hamburger Moschee bisweilen mehr als 2000 Gläubige. In den Predigten kritisiert Ghaemmaghami „Fundamentalisten“ und die Ideologisierung“ des Islams. Die Fundamentalisten stellten die Tradition und die Ideologie über die Vernunft und seien somit zu kritikunfähigen Gefangenen ihrer Tradition geworden.Ghaemmaghami vertritt eine Lehre wider die Buchstabengläubigkeit der Koranexegese, die in den traditionellen Hauptströmungen des Islams immer noch vorherrscht. Die äußere Form der Regeln, die aus den Quellen des islamischen Rechts – Koran, Sunna und Hadith – abgeleitet würden, hänge von den gesellschaftlichen Umständen ab, die zu der .Zeit herrschten, als die Regeln formuliert wurden, sagt er. „Es sind die Betonköpfe, für die die Formen universell gelten – universell gültig ist nur ihr Geist.“ Dieser „Geist“ sei flexibel genug; um sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. „Idschtihad“ steht nach den Worten Ghaemmaghamis für die besondere Fähigkeit, zwischen den religiösen Normen und ihrem „Geist“ unterscheiden. zu .können. Es gehe um eine „Reinigung“ der religiösen Normen, sagt er; in dem Sinne, daß der Islam den europäischen Werten und Normen angepaßt werden könne. Er will für einen Islam europäischer oder deutscher Prägung eintreten. Sich in eine Parallelgesellschaft zurückzuziehen stimme nicht mit der Lehre des Propheten Mohammad überein, hat Ghaemmaghami in seinem Beitrag auf der Konferenz der europäischen Imame, die am vergangenen Wochenende in Wien abgehalten wurde, gesagt. Der Prophet habe im ersten Jahr nach der „Hidschra“, der Auswanderung von Mekka nach Medina im Jahr 622, zwischen Muslimen and Nichtmuslimen einen Vertrag geschlossen und diese Gesellschaft als „einheitliche Gemeinschaft“ bezeichnet. Dieser Gesellschaftsvertrag bekräftige das „koranische Prinzip der Koexistenz“, das Verhalten des Propheten mache deutlich, daß religiöse Minderheiten dem Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht schaden durften daß es nicht zu Spannungen oder gar Trennung kommen dürfe. „Und das ist genau das, was heute als Integration bezeichnet wird.“„Wir erwarten vor den Muslimen, daß sie die Traditionen der deutschen Gesellschaft and die Unantastbarkeit ihrer Normen akzeptieren“, sagt Ghaemmaghami. Er sagt aber auch: „Die Muslime müssen das Gefühl bekommen, daß ihre Glaubensgrundsätze nicht angetastet werden.“ Wie weit denn die Mehrheitsgesellschaft den Muslimen oder die Muslime der Mehrheitsgesellschaft in diesen Fragen entgegenkommen sollten? Darüber solle man in einen Dialog miteinander treten, sagt er – einen Dialog, an dem sich der junge Ajatollah auch gern im Kanzleramt bei dem von Bundeskanzlerin Merkel geplanten Islamgipfel beteiligen würde. Er werde das Kopftuch als religiöses Gebot nicht abschaffen, sagt er, bekräftigt jedoch: Jemanden zu zwingen, es zu tragen, sei unislamisch, weil es die Entscheidungsfreiheit des Menschen mißbillige and dessen Würde antaste.Ghaemmaghami betreibt aktiv Öffentlichkeitsarbeit für seinen Glauben, ohne vorweg zu kritisieren, er müsse das wegen des „Generalverdachts“ gegen die Muslime tun. Er gratuliert Papst Benedikt XVI. in einer Pressemitteilung zum Weltjugendtag als „großartigste Initiative der katholischen Kirche“, weit dieser die spirituelle Rückbesinnung der Jugend gefördert habe. Er ist jemand, der lieber von den „tiefen Gemeinsamkeiten“ von Judentu, Christentum und Islam spricht. Jemand, der sagt, er könne nicht verstehen, wie jemand, der in Deutschland lebe, sich nicht für die deutsche Gesellschaft interessiere. Er tut das in persischer Sprache: Fehlende Sprachkenntnisse, sagte er im vergangenen Jahr in einem Fernsehinterview, seien kein Hindernis für die Integration. Die Einigkeit im Herzen sei wichtiger als die Einigkeit nach Worten.Es sind insgesamt liberale Positionen für einen Geistlichen, der von den Mullahs in Iran an die Elbe geschickt wurde; and Ghaemmaghami vertritt sie öffentlich. Mit der iranischen Regierung hat er nichts zu tun, Politisches und Religiöses zu trennen sei ihm wichtig. Er vertrete – selbständig und unabhängig – die religiöse Geistlichkeit, sein Ruf ans IZH sei von der „höchsten geistlichen Autorität“ im Iran bestätigt worden.Der Hamburger Verfassungsschntz hatte das Zentrum in seinem Bericht für 2004 als „wichtige Propagandaeinrichtung“ und ranghohes „Verbindungszentrum“ der Islamischen Republik Iran in Europa bezeichnet. Das IZH unterstütze die Hizbullah-Anhänger in Deutschland, hieß es weiter. Zur Zeit der islamischen Revolution war dort für die Sache Chomeinis geworben worden. Es sei weniger die Regierung, sondern vielmehr die hohe Geistlichkeit, zu der enge Verbindungen bestünden, sagt der Amtsleiter des Hamburger Verfassungsschutzes, Vahldieck. „Der Ruf nach Hamburg ist durchaus ein Indiz dafür, das Ghaemmaghami unter den religiösen Eliten Irans einen gewissen Stellenwert hat.“ Er sehe eine positive Entwicklung“. Die Behörde habebeobachtet, daß sich das Verhalten des IZH in Zusammenhang mit dem „al Quds-(Jerusalem-)Tag“ gebessert habe. An diesem Tag, der von Chomeini aus Anlaß der Besetzung der Heiligen Stätten in Jerusalem durch Israel ins Leben gerufen wurde, kommt es jährlich zu Großdemonstrationen, an denen die islamistische Szene teilnimmt. „In der Vergangenheit war das IZH noch einer der Initiatoren. Im vergangenen Jahr hat sich die Gemeinde merklich zurückgehalten“, sagt Vahldieck. Ghaemmaghami baue außerdem aktiv Kontakte zu den Hamburger Behörden auf. „Diese positive Entwicklung wird auch Widerhall im Verfassungsschatzbericht für 2005 finden, der Ende April veröffentlicht wird“, sagt Vahldieck.Udo Steinbach, Iran-Kenner und Direktor des Deutschen Orientinstituts in Hamburg, lobt Ghaemmaghami für den „frischen Wind“, den er bringe. Er sei ein Verfechter des Dialogs – wie auch der bekannte Reformer und ehemalige iranische Präsident Chatami. Chatami war einer der Vorgänger Ghaemmaghamis, leitete das IZH zwischen 1978 und 1980. Im vergangenen Sommer war er dort noch zu Besuch. Auch Chatami studierte in Qom, und Ghaemmaghamis Aussagen ähneln denen des ehemaligen Reformpräsidenten. Säkularisieren müsse der Islam sich nicht: „Er ist in seinem Wesen demokratisch“, sagt Ghaemmaghami und lächelt wissend.