Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In der letzten Freitagsansprache haben wir über das Wesen des Glaubens gesprochen und in diesem Zusammenhang gesagt, dass die wichtigsten Elemente des Glaubens Kenntnis und Bewusstsein sind. Nun sollen wir uns intensiver mit der Frage befassen, ob der Glaube im Widerspruch steht zur Vernunft oder nicht. Normalerweise benutzen viele von uns den Begriff der Frömmigkeit, wenn sie religiösen Glauben definieren und interpretieren möchten. Wir sagen z. B. der religiöse Glaube bedeutet Frömmigkeit im Hinblick auf das Gotteswort, das von den Propheten überbracht wurde, oder die fromme Akzeptanz der Befehle und Gebote Gottes und der Lehren Seiner Propheten.Frömmigkeit wird in der Regel im Unterschied zur Vernunft gebraucht; hier gilt es festzustellen, ob dieser Gebrauch richtig ist und ob zwischen Frömmigkeit und Vernunft tatsächlich ein Widerspruch existiert, und wenn ja, ob Frömmigkeit ein Hauptbestandteil religiösen Glaubens ist. Das wichtigste identitätsbildende Element des Menschen, das ihn von anderen Lebewesen und Phänomenen im Universum unterscheidet, sind Vernunft und Denken, und das wichtigste Merkmal von Gedanken und Denken besteht im Aufwerfen kritischer Fragen. Ein Mensch, der mit unterschiedlichen und insbesondere neuen Phänomenen konfrontiert wird, und darauf nicht mit Neugier und Interesse, sondern mit Gleichgültigkeit und absoluter Ruhe reagiert, und die Dinge einfach so, wie sie sind, akzeptiert, kann kein denkender und kritischer Mensch sein. An dieser Stelle ist es angebracht, eine Definition von der Vernunft und Vernünftigkeit zu geben. Vernunft kennzeichnet eine Aussage, die so klar und argumentativ ist, dass der Mensch zweifellos von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugt wird. Wenn jemand z. B. sagt: „Jetzt ist es Tag“, und wir unsere Sinne benutzen und die Richtigkeit dieser Aussage erkennen, werden wir bestätigen, dass diese Aussage vernünftig ist. Oder wenn wir die
Fußspuren eines Menschen im Schnee sehen, ist der Glaube an die Aussage, dass jemand vorbeigegangen ist, ein vernünftige Annahme, weil die im Schnee vorhandenen Spuren die Interpretation unserer Sinne unterstützen und jede Art von Zweifel in diesem Zusammenhang beseitigen. Es kommt aber auch vor, dass der Inhalt und die Bedeutung der Aussage nicht so klar und logisch sind und man vom Wesen der Aussage nicht schließen kann, dass der Mensch davon überzeugt wird, so dass in einem solchen Fall eine derartige Aussage nicht akzeptabel ist. Wenn jedoch jemand die Bedeutung und den Inhalt solcher Aussagen akzeptiert, weil er demjenigen vertraut, der diese Aussage gemacht hat, dann basiert die Akzeptanz dieser Aussage auf einer Art von Frömmigkeit. Folglich kann man Frömmigkeit als eine vollkommene Akzeptanz verstehen. Ein frommer Mensch ist, wer aufgrund seines Vertrauens auf den anderen sich dessen Aussage ohne jegliche Unsicherheit und jeglichen Zweifel vollkommen ergibt und seine Worte und Befehle akzeptiert. Aber bleibt in einem solchen Fall, d. h. wenn wir Glauben als Frömmigkeit verstehen, überhaupt noch Platz für Vernunft und Nachdenken? Sicherlich ist Frömmigkeit ein Hauptbestand von religiösem Glauben. Aber im Prozess des Glaubens nehmen Vernunft und Vernünftigkeit eine entscheidende und nicht zu leugnende Rolle ein, wenngleich wir zwischen Glauben und Vernunft keinen Widerspruch sehen und ein Paradoxon hinsichtlich Frömmigkeit und Vernunft nicht akzeptieren. Gemäß der Definition vom Glauben, die wir in der letzten Freitagsansprache gegeben haben, ist der Glaube keine Wahrheit, die auf nur einem Element basiert, sondern verschiedene Elemente können an der Manifestation von Glauben beteiligt sein. Bewusstsein und Kenntnis sind Hauptelemente des Glaubens, und hier wird die Funktion von der Vernunft des Menschen bei der Ausbildung und Manifestation des Glaubens sehr deutlich. Die Hauptstrukturen und der Rahmen religiöser Kenntnis wurzeln in der Vernunft des Menschen. Solange es die Religion nicht schafft, in einem ersten Schritt die vernünftigen Fragen des Menschen zu beantworten und ihn zu überzeugen, kann der Glaube nicht in das Innere des Menschen vordringen und auf dieser Stufe aufbauend der Frömmigkeit einen Platz zuweisen, d. h. die Zeichen und Funktion der Frömmigkeit mit dem Glauben zu verbinden. Mittels vernünftiger Überzeugung, die die Religion dem Menschen vermittelt, werden sich die elementaren Elemente des Glaubens in ihm manifestieren, in weiteren Stufen mittels Frömmigkeit und religiöser Akzeptanz die Glaubenselemente vervollständigen und der Mensch in die Gemeinschaft der Gläubigen eintreten. Deshalb kann die Vernunft nicht den Platz der Frömmigkeit einnehmen, und auch die Frömmigkeit kann umgekehrt nicht den Platz der Vernunft einnehmen, sondern beiden kommt in Gestalt des Glaubens eine entscheidende Rolle und Funktion zu. Stellen Sie sich vor, jemand behauptet nur, dass er über medizinische Kenntnisse verfügt, und er erklärt uns, wir würden an einer gefährlichen Krankheit leiden. Er verlangt darüber hinaus von uns, dass wir seine Empfehlungen annehmen und in die Tat umsetzen, und dass wir ihm die Heilung unserer Krankheit überlassen. In einem solchen Fall wird kein vernünftiger Mensch die Kompetenz dieser Person akzeptieren und ohne Fragen zu stellen deren medizinische Empfehlungen umsetzen. Die Annahme ihrer Behauptung käme einer unvernünftigen Ergebenheit gleich, denn in einem solchen Fall steht die fromme Ergebenheit im Widerspruch zur Vernunft, weil diese Person nur behauptet, medizinische Kenntnisse zu besitzen. Aber wenn dieser Mensch, der von einer gefährlichen Krankheit in uns berichtet, jemand ist, von dem wir wissen, dass er fundierte Kenntnisse besitzt und dessen Aussagen sich oft als richtig erwiesen haben, wenn uns also ein solcher Mensch auf diese Erkrankung hinweist und uns z. B. den Verzehr bestimmter Nahrungsmittel untersagt, dann werden wir, weil wir von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt sind und ihm vertrauen, seine Empfehlungen akzeptieren oder aber aufgrund seiner Empfehlung zumindest Vorsicht walten lassen und nicht das Gegenteil seiner Empfehlung praktizieren, wenngleich wir selbst nicht die Möglichkeiten und Mittel haben, die Richtigkeit seiner Behauptung in diesem besonderen Fall überprüfen und beurteilen zu können. Oder stellen wir uns jemanden vor, der uns argumentativ das Sein eines Phänomens beweist, uns alle diesbezüglichen Fragen beantwortet und uns letztlich davon überzeugt, dass es ein solches Phänomen gibt und seine Behauptung richtig ist: Wenn uns die Berichte dieses Menschen über seine Betrachtungen von den Eigenschaften und Merkmalen dieses Phänomens vernünftig erscheinen und uns überzeugen, werden wir, auch wenn wir diese Eigenschaften und Merkmale selbst nicht direkt wahrnehmen können, diesem Menschen vertrauen, weil uns zuvor die Richtigkeit seiner Aussage bewiesen wurde, oder zumindest werden wir nichts gegen seine Beweise oder Argumentation einwenden. Diese Beispiele haben den Unterschied zwischen zwei Arten von Frömmigkeit deutlich gemacht: Wenn beim ersten Beispiel die Behauptung akzeptiert wird, dann ist das eine Frömmigkeit, die auf Unbewusstsein basiert und der Vernunft widerspricht. Aber im zweiten und dritten Fall ist es eine vernünftige Frömmigkeit, die auf Vernunft und Bewusstsein basiert und aus dem Bewusstsein und Wissen des Menschen resultiert. Nun sollen wir untersuchen und sehen, ob es im Islam Frömmigkeit gibt oder nicht, und im Falle dass es sie gibt, was für eine Art von Frömmigkeit es ist. Frömmigkeit kann die Vernunft und das Bewusstsein des Menschen nicht ersetzen. Grundsätzlich wird der Frömmigkeit an sich im Rahmen des Glaubens und der religiösen Wahrnehmung des Menschen kein Wert beigemessen. Aus islamischer Sicht darf kein Mensch – ohne Wenn und Aber – etwas nur auf der Grundlage von Frömmigkeit akzeptieren, auch nicht die Essenz Gottes oder die göttlichen Propheten, sondern für die Akzeptanz einer jeden Sache bedarf es der Überzeugung der Vernunft und Vernünftigkeit des Menschen. Das bedeutet, solange die Vernunft auf ihre Fragen keine entsprechenden Antworten bekommen hat und nicht überzeugt wurde, kann es keine Akzeptanz geben. Frömmigkeit kann es nur auf der Grundlage vernünftiger Akzeptanz geben, die aus einer vernünftigen Erklärung für den Menschen resultiert.Der Glauben und das Vertrauen in einen Arzt, dessen fundiertes Wissen, fachmännische Kenntnisse und die Richtigkeit seiner Diagnosen erwiesen sind, sind mittels der Vernunft vollkommen erklär- und beweisbar. Die wesentlichen Lehren der göttlichen Religionen gründen auf vernünftigen Beweisaussagen und vernünftiger Argumentation. Das Wesen des Schöpfers des Universums und des Jenseits’ ist eine Wirklichkeit, die nicht geleugnet werden kann. Niemand kann behaupten und überzeugend darlegen, dass diese außergewöhnlich komplizierte Ordnung, die in der Natur vorhanden ist, zufällig und von alleine zustande gekommen ist. Diese Wirklichkeit, die man nicht leugnen kann, egal worauf sie bezogen wird, ist der mächtige Schöpfer, auf den die Menschen von den Propheten aufmerksam gemacht wurden. Wir müssen Gott nicht beweisen, sondern die Botschaft des Qur’an und aller göttlichen Religionen lautet, dass Gott die Wahrheit ist. Der Qur’an berichtet uns, dass die Lehre Abrahams, (Friede sei mit ihm), des größten Aufrufers zu Tauhid, d. h. dem Glauben an den einen Gott, die Hauptsubstanz aller monotheistischen Religionen ist. Er hat zum Beweis des Wesens Gottes mit den objektiven Wahrheiten und Wirklichkeiten der Natur argumentiert. Er hat niemals von einem unbekannten Gott gesprochen, dessen Beweis komplizierter Argumentationen bedarf, die der Mensch nicht verstehen könnte, sondern er hat mit Tatsachen argumentiert, die sehr klar und aussagekräftig sind, und diese Art der Argumentation konnte alle überzeugen. Er hat erwähnt, dass genau diese Wahrheit, die die Schöpfung und die Veränderungen in der Natur verursacht, Gott ist. Mit anderen Worten: Er hat niemals versucht, Gott und die Existenz Gottes zu beweisen, sondern er hat einen besseren und einfacheren Weg gewählt, indem er gesagt hat: Die Wahrheit ist Gott. Deshalb konnte er in der Auseinandersetzung mit den Ungläubigen und denjenigen, die das Wesen Gottes damals in Frage gestellt haben, die Menschen mit seiner absolut klaren, argumentativen und überzeugenden Beweisführung überzeugen. Auf diese Weise hat er die Unsicherheit der Wahrheitssuchenden beseitigt und jenen, die die Wahrheit nicht akzeptieren wollten, ihre falschen Aussagen und Behauptungen aufgewiesen. Er hat zu dem Führer der Ungläubigen, der behauptete, Gott zu sein, gesagt, dass sein Herr lebendig macht, sterben lässt und die Sonne im Osten aufgehen lässt. Und Abraham forderte ihn auf, er solle die Sonne im Westen aufgehen lasse, wenn er die Wahrheit sage und Gott sei (vgl. Sure al-Baqara, Vers 258). Diese Art der Argumentation deckte die Ohnmacht des Ungläubigen, seine Behauptung zu beweisen, auf. Der Qur’an lädt die Menschen zu nichts anderem als Wirklichkeit und Wahrheit ein, Wirklichkeiten und Wahrheiten, hinsichtlich der alle Unsicherheiten mit ein wenig Nachdenken beseitigt werden. Alle wesentlichen Botschaften des Islam haben ein solches Wesen; der Qur’an verlangt niemals von den Menschen, dass sie seine Botschaften mittels Frömmigkeit akzeptieren, sondern er betont wiederholt den Gebrauch der Vernunft und lädt die Menschen zum Nachdenken ein und erwähnt in aller Deutlichkeit, dass das Nachdenken und der Gebrauch der Vernunft den Menschen den Weg zu Glückseligkeit und Rettung weist. Dieses Thema werden wir, so Gott will, in der nächsten Freitagsansprache mit der Erörterung der Bedeutung der Frömmigkeit im Rahmen des islamischen Gesetzes fortsetzen. Wie Sie alle wissen, ist Seine Exzellenz, Papst Johannes Paul II., sehr schwer erkrankt, und deshalb schließen wir ihn in unsere Gebete ein, auf dass er so bald wie möglich genesen und seine göttliche und menschliche Verantwortung wie in der Vergangenheit wieder wahrnehmen kann. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.