Am 26. und 27. Februar 2005 fand in Hamburg ein Seminar statt, an dem die größten islamischen Organisationen aus den verschiedenen deutschen Bundesländern teilnahmen. Im Verlaufe dieser Tagung wurde die Konzeption einer demokratischen Struktur durch Kooperation aller Vereine und islamischen Zentren beraten, auf deren Grundlage die Meinungen und Ansichten der Muslime kundgetan und eine friedliche Koexistenz der Muslime in dieser Gesellschaft ermöglicht werden sollen. Gastgeber dieser Veranstaltung war die Schura-Hamburg; Ayatollah S. A. Hosseini Ghammaghami, der Imam und Direktor des Islamischen Zentrums Hamburg, hieß als Vorsitzender der Schura-Hamburg die Gäste willkommen und warf in seiner Eröffnungsrede, die wir nachfolgend im vollständigen Wortlaut dokumentieren, einen konzisen Blick auf die Zukunft der Muslime.Eröffnungsrede von Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini GhaemmaghamiImam und Direktor des Islamischen Zentrums Hamburg, Vorsitzender der Schura-Hamburg
Im Namen des ErhabenenWir sehen uns in dieser Gesellschaft mit einigen objektiven Wahrheiten konfrontiert, und zwar
- Die Muslime sind in dieser Gesellschaft präsent.
- Die Muslime sind eine Minderheit.
- Die Muslime gehören verschiedenen Nationen, Ethnien und Rechtsschulen an.
Von dem Faktum abgesehen, dass die Muslime im vergangenen Jahrhundert als Immigranten in diese Gesellschaft gekommen und nun in ihr gegenwärtig sind, gilt es eine weitere Realität zu beachten, nämlich dass die deutsche Gesellschaft als unser Gastgeber eine Vielzahl von Werten, Traditionen und Überzeugungen repräsentiert, die Ausdruck ihrer zivilisatorischen, kulturellen und historischen Identität sind.Die dauerhafte Präsenz von Immigranten in einer Gesellschaft wird überhaupt nur möglich, wenn die zugewanderte Minderheit in ihrem Verhältnis zur Gesamtgesellschaft eine Art von Zusammenhalt entwickelt. Was die deutsche Gesellschaft aktuell von den Zuwanderern erwartet, ist eine Art Homogenität, die, wenngleich sie manchen von uns Immigranten schwer fällt, dennoch das Recht dieser Gesellschaft reflektiert. Ich möchte mich hier nicht auf eine wissenschaftliche soziologische Diskussion der Theorien über das Wesen der Gesellschaft, die kollektive Identität und die konstituierenden Elemente einer Gesellschaft einlassen, und ich möchte hier auch nicht die Verbindung zwischen Individuum und Gemeinschaft noch das Verhältnis zwischen Minoritäten und Majoritäten erörtern. Egal, welche Gesellschaftstheorie wir vertreten und ungeachtet dessen, mit welcher Theorie wir das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu erklären versuchen, ob wir die Individualität oder die Kollektivität betonen oder beidem den gleichen Stellenwert beimessen, müssen wir die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung als eine Realität anerkennen, die nicht angezweifelt werden kann. Alle soziologischen Theorien messen der Verpflichtung zur gesellschaftlichen Ordnung große Bedeutung bei.Wenn die gesellschaftliche Ordnung und Einheit beeinträchtigt wird, wenn Segmente der Gesellschaft von Separatismen beherrscht werden und die Gesellschaft gespalten wird, wird sie sich mit ernsthaften Problemen konfrontiert sehen. Ich bin davon überzeugt, dass niemand das grundlegende Prinzip in Zweifel zieht, wonach das Fortbestehen einer jeden Gesellschaft auf der Ordnung und Harmonie ihrer Teile und des sie beherrschenden Geistes der Einheit gründet. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sind für die Beständigkeit und den Schutz dieser Ordnung wie auch für die Stärkung des in ihr herrschenden Geistes verantwortlich; das ist die primäre Verantwortung, die jedes Gesellschaftsmitglied wahrnehmen soll, und in diesem Sinne müssen jene, die in eine Gesellschaft kommen, mit ihrem Eintritt in diese Gesellschaft automatisch diese Verantwortung akzeptieren. Folglich ist die Integration der Zuwanderer das Recht der Gesellschaft, und die Verantwortung, sich zu integrieren, obliegt jedem Immigranten. Jede Entwicklung einer Art vertikaler oder horizontaler Parallelgesellschaft widerspricht dieser Verantwortung gegenüber der Hauptgesellschaft und wird selbstverständlich seitens dieser negative Reaktionen hervorrufen. Wie ich bereits anfänglich hervorgehoben habe, impliziert die Integration bestimmte Verpflichtungen gegenüber der indigenen Gesellschaft, wobei jedoch die Divergenzen im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Rechtsschulen, Nationen und Ethnien der muslimischen Immigranten einerseits und zur deutschen bzw. umfassender ausgedrückt, europäischen Gesellschaft, reale Faktoren darstellen, die weder außer Acht gelassen noch ignoriert werden können.Die wichtigste Frage, die sich im Kontext des Integrationsprozesses stellt, ist die Frage, welches Konzept und welche Methode verfolgt werden sollen? Ist es notwendig, zugunsten einer Integration die religiöse Identität zu negieren?Bedauerlicherweise wird Integration zuweilen so definiert, dass die quantitativ kleine Minorität in der Mehrheitsgesellschaft untergeht, obgleich die Präsenz anderer kultureller, religiöser und ethnischer Minderheiten nicht per se mit der Ordnung und Einheit der Mehrheitsgesellschaft im Widerspruch stehen muss. Deshalb sollten beide Seiten umsichtig sein, das bedeutet, die Minderheiten sollen ihre jeweiligen Charakteristiken und kulturellen Eigenarten nicht in einer Art Parallelgesellschaft leben und dadurch die gesellschaftliche Ordnung schwächen, und andererseits darf die Mehrheit Minderheiten nicht ignorieren, denn eine solche Missachtung der Interessen der Minderheiten wird negative Folgen wie z. B. die Negierung der gesellschaftlichen Verantwortung, die Entwicklung von Parallelegesellschaften oder Isolation der Angehörigen der Minderheiten nach sich ziehen.Deshalb sehe ich es als eine der wichtigsten Aufgaben der Intellektuellen in den muslimischen Gesellschaften an, ein Konzept zu entwickeln, das einerseits auf eine erfolgreiche Integration abzielt und andererseits den Schutz der religiösen Identität und Rechte der Muslime gewährleistet. Die Konkretisierung eines solchen Konzeptes setzt die Berücksichtigung einiger Aspekte voraus, und ich möchte diese Gelegenheit im Kreis von gelehrten und klugen Menschen nutzen, und einige dieser Punkte ansprechen, ohne eventuelle Reaktionen seitens uninformierter Menschen befürchten zu müssen.Organisation ist eine wesentliche Notwendigkeit für die Gemeinschaft der Muslime und birgt nicht nur Nutzen für die Muslime und im weiteren Sinne für jede Minderheit in sich, sondern auch für die Mehrheitsgesellschaft und die Herrschaft, denn mittels einer Organisation können die Muslime ihre Rechte einfordern und die Ansprechpartner der Muslime sehen sich mit klar definierten Rechten und Forderungen konfrontiert und können sich, anstatt mit einzelnen kleinen Gruppen zu sprechen, an eine gesellschaftliche Vertretung der Muslime wenden.Es scheint jedoch, dass die immigrierten Muslime vor einer Organisation zunächst eines positiven gedanklichen Wandels im Sinne einer Veränderung ihrer ideellen Strukturen bedürfen. Ich muss in aller Klarheit und Deutlichkeit feststellen, dass sich die Gedanken und das Verhalten mancher Muslime grundsätzlich von den Lehren des Islam unterscheiden. Die Gemeinschaft der Muslime in Deutschland und Europa bedarf vor allem der Selbstkritik und des Überdenkens ihres Glaubens und Verhaltens, so dass ausgeschlossen werden kann, dass diese auf einer oberflächlichen und falschen Interpretation der religiösen Lehren beruht. Ich vermute, dass jede Art von Engagement, das eine Veränderung in den Beziehungen der muslimischen Gemeinschaft bewirken und die Minderheit-Mehrheit-Beziehung korrigieren soll, zunächst einer gedanklichen Revision bedarf. Es ist eine Tatsache, dass der Islam, so wie er durch das Verhalten und das Predigen mancher Muslime in dieser Gesellschaft dargestellt wird, keine Gemeinsamkeiten mit der historischen gedanklichen Struktur der deutschen Gesellschaft aufweist. Fundamentalistische Interpretationen, die auf einer bestimmten politischen Sichtweise oder auf einem oberflächlichen Religionsverständnis von Glauben und Unglauben basieren, sollen durch die wahren islamischen Gedanken gereinigt werden. Leider sind viele von uns noch immer in der Gefangenschaft falscher traditioneller gedanklicher Strukturen, die wir fälschlicherweise als religiöse Rechtsschule verstehen. Viele von uns haben noch nicht gelernt, ein Minimum an Toleranz und Verständnis für Andersdenkende aufzubringen, so dass wir einen Dialog miteinander führen und auf dieser Grundlage die artifiziellen Divergenzen zwischen den verschiedenen Rechtsschulen überwinden können. Einheimisch zu sein birgt das Geheimnis der historischen und gesellschaftlichen Beständigkeit in sich. Solange sich ein Phänomen nicht gemäß den Gegebenheiten und Besonderheiten der Umgebung entwickelt, kann es kein wesentlicher Bestandteil dieser Gesellschaft sein.Die Rationalität und Mäßigkeit des Islam schaffen die Voraussetzung für das Verfolgen des Prozesses, der ein Einheimischwerden in der europäischen Gesellschaft ermöglicht. Wenn wir wollen, dass der Islam von der Ebene der Religion der Gastarbeiter zu einem anerkannten Hauptelement dieser Gesellschaft wird, und wenn wir weiter möchten, dass die muslimischen Immigranten von der Ebene der Gastarbeiter zur Ebene der engagierten und geschätzten Mitbürger gelangen, sind wird gezwungen, selbst das wahre Gesicht des Islam zu kennen und dieses rationale und humane Gesicht des Islam unabhängig von unseren persönlichen Vorlieben und Interessen widerzuspiegeln. Die Mäßigkeit und Rationalität des Islam vermag das notwendige Verständnis zwischen den Muslimen und der europäischen Gesellschaft zustande zu bringen. Eine Vernachlässigung dieses Aspektes wird zu einem weiteren Ausbau von Parallelgesellschaften anstatt zu einen konstruktiven Engagement führen und zu einem Störfaktor in dieser Gesellschaft werden oder zu einer Art von religiöser Entfremdung führen, die zu einem Vergessen und letztlich einem Verzicht auf die religiöse Identität führen.Die Kultur der Demokratie und des Pluralismus, die die Hauptelemente und wesentliche Identität der deutschen Gesellschaft ausmachen, kann schnell und einfach eine gemeinsame Sprache mit der islamischen Mäßigkeit und Rationalität finden und zu Verständnis und der Beseitigung der vielen vorhandenen Missverständnisse beitragen. Hier wird die Rolle und Funktion der islamischen Gelehrten, Denker und Intellektuellen beim Zustandebringen eines solchen strukturellen Wandels deutlich. In diesem Sinne kann jedes Konzept, das für die Zukunft der Muslime entwickelt wird, kein rein soziales Konzept sein, das die Gründung einer zivilen Organisation allein um sozialer Ziele und Ideen willen verfolgt, sondern ein solches Konzept muss auch dem psychischen und ideellen Unterbau hinreichend Achtung schenken, und dies ist nicht möglich, ohne islamische Gelehrte und Denker einzubeziehen. Es ist darüber hinaus selbstverständlich, dass die allgemeine Akzeptanz eines solchen Konzeptes die entsprechende religiöse Legitimation voraussetzt. Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Kontext beachten müssen, ist, dass wir ein für allemal die Stellung der islamischen Gelehrten und der Muslime im Zusammenhang mit dem Islamismus und politischen Islam klar und deutlich verstehen müssen, und es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass der politische Islam und Islamismus in dieser Gesellschaft bedeutungslos ist und mit den islamischen Lehren nicht vereinbar ist. Jede Art von soziopolitischem Engagement der Muslime muss im Rahmen der Demokratie und Zivilgesellschaft stattfinden. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer wichtiger Punkte, die es zu diskutieren gilt, und die ich nur kurz erwähnen möchte: · Die Reduzierung des wahren Islam auf bestimmte Nationalitäten und Ethnien.· Das Verhältnis der zurzeit bestehenden großen islamischen Zentren zu den kleineren islamischen Vereinen und Gemeinschaften im Hinblick auf den Zukunftsprozess.· Die Entwicklung eines Konzeptes für einen erweiterten Gedankenaustausch und Dialog zwischen den islamischen Rechtsschulen.· Die Kenntnis der gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten für die individuellen und gesellschaftlichen Rechte der Muslime.· Die Erkennung und Bestimmung derjenigen islamischen Persönlichkeiten, die die Muslime repräsentieren können und die Legitimation solcher muslimischer Abgeordneter als Sprachrohr der Muslime. Grundsätzlich muss die Frage untersucht werden, ob diese Abgeordneten das Recht haben, sich im Namen der Muslime zu äußern und als Sprachrohr der Muslime angesehen zu werden.· Feststellung und Definition der Besonderheiten des europäischen Islam und die Bewahrung der religiösen Identität der dritten und vierten Generation der Muslime.· Die Wirkung und konstruktive Funktion des Islam auf der Grundlage der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwortung seitens des Individuums.· Untersuchen und Feststellung der Voraussetzungen für die Entwicklung größeren Verständnisses der muslimischen Gemeinschaft.· Die Untersuchung der Stellung der Gelehrten, Rechtsgelehrten und religiösen Persönlichkeiten im Zukunftsprozess des Islam. Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer Themen, und ich hoffe, dass diese Sitzung ein gesegneter Anfang für die Beantwortung solcher Fragen und letztlich für das Erreichen eines vollkommenen und akzeptablen Konzeptes für die Zukunft sein wird.