Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Nachdem wir uns bisher mit den politischen und gesellschaftlichen Freiheiten aus der Sicht des Islam beschäftigt haben, bietet sich nun die Diskussion einer der wichtigsten Freiheiten, nämlich der Gedankenfreiheit, an. Was bedeutet Denken? In einem einfachen Sinne meint es die rationale Betrachtung eines Gegenstandes, um diesen kennen zu lernen und Erkenntnis über ihn zu erlangen. Gemäß dieser Definition ist Denken ein Vorgang im Innern, d. h. im Geist und Gewissen des Einzelnen, und in diesem Kontext kommt der Diskussion über die Gedankenfreiheit keine besondere Bedeutung zu. Zweifellos kann jeder Mensch über jede Angelegenheit denken wie er will; niemand kann sein Denken beschränken. Der Islam verbietet deshalb, die Überzeugungen und Gedanken anderer auszuforschen und auszukundschaften und bezeichnet ein solches Verhalten als „haram“, d. h. als religiös verboten. Er verbietet jede Nachforschung und Bespitzelung in privaten Angelegenheiten, zu denen vor allem das Denken gehört (vgl. Sure al-Hudschurat, Vers 12).Das Denken weist jedoch auch einen über die individuelle Ebene hinausgehenden gesellschaftlichen Charakter auf, denn das menschliche Bewusstsein reflektiert Informationen und Einflüsse von außen. Das soziale Verhalten des Menschen wird wiederum von seinem Denken bestimmt. Wenn wir also von der Gedankenfreiheit sprechen, meinen wir die Freiheit, Gedanken öffentlich zu äußern, was eines der wichtigsten Grundrechte darstellt. Der ehrwürdige Qur’an verweist in vielen Versen auf die Notwendigkeit der Gedankenfreiheit und spricht in diesem Kontext von zwei Gesellschaftsarten, der geschlossenen und unentwickelten bzw. der offenen und entwickelten Gesellschaft. Die geschlossene Gesellschaft kennzeichnen aus qur’anischer Sicht zum einen Stagnation im Denken und fehlende Rationalität und zum anderen tribale Strukturen und traditionsgebundene Nachahmung.Stagnation des Denkens bedeutet dem Qur’an zufolge Zensur, Beschränkung des Denkens und Behinderung von Gedankenaustausch. Das zweite wichtige Charakteristikum einer geschlossenen Gesellschaft, die tribale Struktur, lässt die individuelle Identität völlig in der Identität der Gruppe oder des Stammes aufgehen, die sich ausschließlich über die Stammesführer und die Notabeln definiert. In solchen Gesellschaften wird das Denken von früheren Traditionen tradiert und das Individuum muss sich dieses Denken aneignen und danach handeln, d. h. Denken in seinem eigentlichen Sinne existiert überhaupt nicht. Dem Qur’an zufolge werden in solchen Gesellschaften Nachdenken und logische Überlegungen durch Nachahmung ersetzt. Der fehlende Gedankenaustausch und die blinde Nachahmung kennzeichnen folglich auch jene, die sich der Einladung zum Glauben der Gesandten widersetzen, indem sie sich auf das Wissen ihrer Väter berufen (vgl. z. B. Sure al-Baqara, Vers 170 oder Sure al-Ma’ida, Vers 104). .Das Ergebnis dieser blinden Nachahmung ist die Bekämpfung aller Gedanken, die eine veränderte, neue Situation implizieren. Der Heilige Qur’Án berichtet uns von dem Kampf des Volkes gegen die neuen rechtleitenden Ideen des Propheten Noah (a.s.), indem es alles daran setzte, seine Gedanken zu bekämpfen. Dieses Volk wollte die neuen Ideen von sich fernhalten, so dass schließlich der Prophet Gott klagte, dass sie sich bei seinen Ermahnungen die Ohren zuhalten und sogar ihre Gewänder über sich ziehen, damit sie ihn nicht sehen und hören können.(Vgl. Sure Nuh, Vers 6).Auch zu Zeiten des Propheten Muhammad (s.a.s.) wandten die Gegner verschiedene Methoden am, um die neuen Ideen zu verhindern oder zumindest einzuschränken. Sie wollten durch Störungen, Tumulte und Skandale erreichen, dass die Worte der Offenbarung weder sie noch andere erreichen (vgl. Sure Fussilat, Vers 26).Neben der geschlossenen Gesellschaft gibt es ein offenes, entwickeltes Gesellschaftssystem, dessen wichtigsten Merkmale Rationalität und freies Denken sind. Der Heilige Qur’an nennt als wichtigste Aufgabe der Propheten das Durchbrechen enger Grenzen und Schranken, damit sich die Gesellschaft von einer geschlossenen zu einer offenen rationalen entwickeln kann. Die Propheten riefen im Laufe der Geschichte die Menschen zu nichts anderem als dem Gebrauch ihres Verstandes auf. Auch wenn die Botschaften der Propheten augenscheinlich den Glauben an Gott und an das Verborgene hervorheben, laden sie dennoch alle zunächst zum Nachdenken ein. Glaube basiert zuerst auf Freiheit, die zum Glauben motiviert, und ferner auf Nachdenken und Ergründen. Das Fundament von Freiheit und freiem Willen sollte Erkenntnis sein, und diese Erkenntnis sollte in einer pluralistischen Atmosphäre erlangt werden, die Willen und Rationalität stärkt. Eine Gesellschaft mit Machtmonopolen und Absolutheitsansprüchen fördert nur blinde Nachahmung.Zwischen Rationalität und Gedankenfreiheit besteht eine wichtige Verbindung. Der wichtigste identitätsbildende Faktor der Ratio ist die Fähigkeit, zu unterschiedlichen Themen eine kritische Haltung einnehmen zu können, was wiederum die Notwendigkeit verschiedener Optionen voraussetzt, aus denen man seine Wahl trifft. Pluralismus ist demnach die Grundvoraussetzung für rationales Denken und Rationalität. Wenn wir von religiösem Glauben sprechen meinen wir damit eine rationale Entscheidung, die in einer Atmosphäre der Gedankenfreiheit getroffen wird. Das inhärente Wesen des Glaubens steht der bloßen Nachahmung diametral gegenüber, und entsprechend beschreibt der Qur’an die Nachahmung als wichtigste Eigenschaft derjenigen, die sich den Propheten widersetzen. Aus diesem Grunde sind islamische Gelehrte der Meinung, dass jeder auf bloßer Nachahmung basierende Glaube wertlos ist.Der Islam versucht, die Überlegenheit des monotheistischen Denkens in einer pluralistischen Kontroverse mit anderen Religionen und Weltanschauungen zu beweisen. Aus islamischer Sicht kann man nur durch eine kritische Gegenüberstellung verschiedener Ideen die beste herauskristallisieren. Erfolg und Glück der Gesellschaft können nur gewährleistet werden, wenn mittels Erkenntnis und Bewusstsein die beste Option ausgewählt wird. In diesem Sinne betont der Qur’an in Sure az-Zumar, Vers 18, die Notwendigkeit, sich verschiedene Ideen anzuhören und auf der Grundlage des Verstandes die beste von ihnen auszuwählen. Der Islam unterscheidet nicht zwischen einem gläubigen und einem rationalen Menschen, denn der rechtgeleitete Diener Gottes ist jener, der die Bedeutung des Nachdenkens anerkennt, sich alle Ideen anhört und dann die beste von ihnen auswählt und zwar in einer Atmosphäre, die ihm die Möglichkeit und Freiheit der Entscheidung und Wahl bietet. In der heutigen Welt werden zwei Bilder vom Islam präsentiert, die sehr weit von der Wahrheit entfernt sind. Zum einen sehen wir bei Muslimen häufig ein Verhalten, das im Grunde mit den Lehren des Islam und des Qur’an nichts zu tun hat, und das oftmals auf tradierten Vorstellungen und Bräuchen beruht. Zum anderen wird eine vernünftige Verbreitung von Gedanken verhindert und es gibt keine Gedankenfreiheit. Dies führt zu dem besagten falschen Bild vom Islam. Hierzulande wird gerade dieses Bild verwendet und als die „Wahrheit“ des Islam kolportiert. Der Islam wird als despotische Religion beschrieben, die jede Freiheit bekämpft und unterdrückt.Unserer Meinung nach ist der Islam eine Religion, die Freiheit propagiert und den Menschen befreien möchte, und in diesem Sinne kann ein Mensch, der sich nicht bewusst und frei für den Glauben entscheidet, nicht als wirklicher Muslim bezeichnet werden.