Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In der letzten Freitagsansprache wurde erwähnt, dass die vielfältigen spirituellen und materiellen Bedürfnisse des Menschen auf eine ausgewogene Weise, ohne jegliche Negierung und auch jeglichen in Unrecht und Unterdrückung resultierenden Exzess, befriedigt werden müssen, weil die vernünftige Harmonie im Menschen aus islamischer Sicht ein Kennzeichen der Vervollkommnung ist und einzig der Mensch die Fähigkeit besitzt, mittels seiner Ratio dieses Gleichgewicht in sich zu schaffen. Mittelmaß und Rationalität kennzeichnen somit nicht nur den Islam, sondern auch den wahren Muslim.Im Zusammenhang von Mittelmaß und Rationalität darf nicht unerwähnt bleiben, dass alle Menschenrechte – gegenüber den Anderen und auch gegenüber sich selbst – beachtet werden müssen. Im Unterschied zu materialistischen Denkschulen impliziert das islamische Menschenbild die kompromisslose Realisierung dieser Rechte, das bedeutet: es genügt nicht, in Konventionen, Protokollen und dgl. die Freiheit und Sicherheit des Menschen zu betonen, sondern vielmehr müssen die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Rechte geschaffen und auch die Menschen selbst aufgefordert werden, ihre Rechte einzufordern und zu praktizieren, denn viele Menschen kennen ihre Rechte nicht und folglich setzen sie sich auch nicht dafür ein. Wer sich seines Rechts auf Leben nicht bewusst ist, dem fällt es vielleicht leichter, dieses aufzugeben, als jemand, der sein Recht kennt. Wer sich seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit nicht bewusst ist, wird sich eher mit Diktatur und Unrecht abfinden als jemand, der sich dieser Rechte bewusst ist. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff Pflicht an Bedeutung, denn aus islamischer Sicht hat der Mensch nicht nur das Recht, frei zu leben, sondern sogar die Pflicht, sein Leben frei zu gestalten, und diese Verpflichtung wird ihn dahingehend motivieren, dass er sich für diese Rechte einsetzt. Würde der Islam nur von Rechten sprechen, sich aber nicht für deren Realisierung einsetzten, wäre dies ein sinnloses Unterfangen, gleich einem Menschen, der ein Auto besitzt, es aber nie gebraucht und damit demjenigen gleicht, der überhaupt kein Auto besitzt.Die größten gesellschaftlichen Probleme und politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisen und Tragödien gründen einerseits im mangelnden Engagement der Menschen für ihre Rechte und zum anderen in der Missachtung dieser Rechte durch andere. Demnach gilt aus der Sicht des Islam nicht nur derjenige als Sünder, der die Rechte anderer verletzt, sondern auch derjenige, der sie nicht einfordert und somit den Machthabern den Missbrauch dieser Rechte ermöglicht, denn im ersten Fall werden andere unterdrückt und im zweiten Fall unterdrückt mach sich selbst, wobei jedoch die Unterdrückung anderer nicht nur als Vergehen und Sünde angesehen wird, sondern sogar als Verbrechen gilt. Diktatoren, die im Laufe der Geschichte das Recht der Menschen auf Leben und Freiheit missachtet haben, sind nicht nur Sünder, die sich vor Gott verantworten müssen, sondern auch Verbrecher, die für ihre Taten verurteilt und bestraft werden müssen. Wer hingegen seine eigenen Rechte nicht eingefordert und anderen dadurch die Möglichkeit zu Unterdrückung geboten hat, ist zwar ein Sünder, aber kein Verbrecher; der Sünder muss sich nur vor Gott rechtfertigen und erhält eine jenseitige Strafe, während der Verbrecher darüber hinaus noch eine Strafe nach dem weltlichen Gesetz erhalten muss. Freiheit und Pflicht? Hier stellt sich die Frage, wie man Freiheit und Pflicht vereinen kann, denn der Islam betont einerseits die Freiheit des Menschen und die Menschenrechte, andererseits verbindet er aber jede Freiheit auch mit einer Pflicht, was manch einem durchaus als paradox erscheinen mag. Zum einen wird dem Menschen gesagt: „Du hast das Recht, so zu leben, wie du möchtest!“ und zum anderen wird ihm die Pflicht auferlegt: „Es steht dir nicht frei, auf deine Freiheit zu verzichten!“ Liegt darin kein Widerspruch?Zur Beantwortung der Frage müssen wir die Begriffe „Zwang“ und „Verpflichtung“ erläutern, die meist als Gegensatz von „Freiheit“ und „Eigenwillen“ angeführt werden. Verpflichtung impliziert eine Notwendigkeit, ein „Muss“ ohne jedoch unbedingt mit Zwang einherzugehen. Dass beispielsweise 2+2=4 ist, stellt ein notwendiges Muss dar, das nicht geleugnet werden kann, ohne dass es irgendeinen Zwang impliziert. Eine solche Verpflichtung basiert auf einer logischen Argumentation, der die menschliche Ratio folgen kann. Jemand, der diese verbindliche Aussage nicht akzeptiert, ist kein Verbrecher, obgleich ihn niemand zur Akzeptanz dieses Grundsatzes zwingen kann und er sich nur vor seinem eigenen Verstand rechtfertigen muss. Jeder rationale philosophische oder mathematische Grundsatz schließt eine solche vom menschlichen Verstand zu bejahende Verpflichtung ein, stellt sozusagen eine „geistige Verpflichtung“ dar, die den Menschen niemals seiner Entscheidungsfreiheit beraubt, sondern ihn vielmehr ermächtigt, die seinem Verstand als beste erscheinende Entscheidung zu wählen. Abgesehen von dieser rationalen Verpflichtung sieht er sich einer konkreten äußeren Verpflichtung gegenüber, die mit der Aufhebung seiner Freiheit und Willensentscheidung verbunden ist und mit Zwang einhergeht. Folglich schließen sich Zwang und Freiheit einander aus. Die geistige Verpflichtung entspricht nicht nur der Freiheit, sie fördert diese sogar noch und ruft im Menschen den Wunsch nach einer richtigen Wahl hervor. Die religiösen Pflichten sind ausnahmslos geistige Verpflichtungen. Wenn der Islam den Menschen dazu verpflichtet, die Rechte der anderen und seine eigene Freiheit zu respektieren, dann ist dies eine geistige Verpflichtung, die keinesfalls aus Zwang und äußerem Druck resultiert, sondern auf der Grundlage der Vernunft realisiert werden soll.Jeder rationale Mensch kann die Richtigkeit der religiösen Gebote des Islam erfassen, und die Anerkennung dieser Gebote bringt natürlich Verantwortung mit sich. Deshalb betont der Islam, dass es keinen Zwang im Glauben geben darf (vgl. Sure al-Baqara, Vers 256); die Aufgabe der Propheten ist es, die Menschen zum Nachdenken zu motivieren und damit zur Erkenntnis und zur Entscheidung für die Wahrheit zu führen. Gott erlaubt niemandem, auch nicht den Propheten, jemanden zu einer Tat zu zwingen, sei sie auch noch so gut. Gott sagt im Qur’an über seinen Propheten Muhammad (s.a.s.), dass er kein Wächter über sie sei (vgl. Sure al-Ghaschiyah, Vers 22).Freiheit ist gleichbedeutend mit der Würde des Menschen, und diese Würde ist kein Recht, sondern macht vielmehr sein Wesen aus. Wenn man die Würde des Menschen missachtet, hat man ihm seine Menschlichkeit genommen und ihn auf die Stufe der Tiere gestellt. Ebenso verhält es sich mit der Freiheit: Wenn wir dem Menschen alle Rechte zugestehen, ihm aber die Freiheit nehmen, ist es, als hätten wir ihm alles genommen. Der Mensch ist Mensch aufgrund von Freiheit und Willen. Wenn wir ihm irgendeine Weltanschauung aufzwingen, haben wir ihn seiner Freiheit beraubt und seine Menschlichkeit verletzt. Der Islam verbietet den Zwang als große Sünde, und er geht sogar so weit, dass er den Glauben eines Menschen, der nicht auf rationaler Erkenntnis, sondern nur auf blinder Nachahmung basiert, nicht annimmt. Der Islam akzeptiert die Ausrede nicht, dass wir schon unsere Väter bei diesem Glauben gefunden haben und deshalb diesem Glauben folgen.