Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Freitagsansprache vom 16.04.2004Im Namen Allahs, des Gnädigen, des BarmherzigenLobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (k), seinen reinen Nachkommen (o) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Ich möchte meine in den vergangenen Freitagsansprachen begonnene Diskussion über die Stellung und den Wert des Menschen im islamischen Denken heute fortsetzen. Es wurde bereits erwähnt, dass im Islam die Menschen unabhängig von Rasse, Nationalität und Geschlecht gleiche Rechte genießen, weil die Menschlichkeit des Menschen eine Realität jenseits derartiger Unterscheidungsmerkmale ist. Die natürlichen Rechte des Menschen gründen in seiner Würde und menschlichen Natur, und religiöse, geschlechtliche oder andere Unterschiede ändern nichts an dieser Tatsache. Der Mensch hat ein Recht auf Leben, weil er Mensch ist, und nicht weil er Muslim, Christ oder Jude, schwarz oder weiß, Perser, Araber oder Europäer ist. Sein Menschsein impliziert das Recht auf Freiheit, Entscheidungsfreiheit, Arbeit, Wohnung, usw. Die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff „Recht“ beigemessen werden können, außer acht lassend, müssen wir im Zusammenhang mit dem Begriff „Menschenrechte“ bedenken, dass diese von niemandem erfunden oder per Gesetz verordnet werden können, sondern für das Sein und die Identität des Menschen essentiell sind. Freiheit ist beispielsweise eine Realität, die sich in der Seinsform des Menschen manifestiert, d. h. der Mensch fühlt in seinem Innersten ein Bedürfnis nach Freiheit, ohne dass jemand dieses Bedürfnis in ihm weckt. Jeder Mensch hasst Vernichtung und Tod und folglich hat er ein Recht auf Leben. Gleichfalls gehören die Rechte auf Sicherheit, Arbeit und Wohnung zu den menschlichen Grundrechten, denn jeder möchte in Ruhe und Wohlstand leben. Die Ablehnung von Zwang und Gewalt und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben impliziert das Recht auf Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Religionsfreiheit des Einzelnen. Der Islam erkennt jedes dieser Bedürfnisse an, akzeptiert sie ausnahmslos und fordert vom Menschen unter keinen Umständen den Verzicht auf eines dieser natürlichen und essentiellen Bedürfnisse. Jedes dem Menschen innewohnende Bedürfnis ist akzeptabel und gerechtfertigt, gleich ob es sich auf individuelle, gesellschaftliche, materielle, geistige oder sinnliche Bedürfnisse bezieht. Aus islamischer Sicht vernachlässigt ein Mensch, der auch nur eines seiner Bedürfnisse nicht erfüllt – selbst wenn es rein materieller oder sinnlicher Natur ist – einen Teil seiner Menschlichkeit und seines Seins, denn wäre dieser Aspekt der menschlichen Natur nicht notwendig, hätte Gott den Menschen anders erschaffen. Aus der Tatsache, dass Gott den Menschen in dieser natürlichen Veranlagung und Bedürftigkeit erschaffen hat resultiert die Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit aller derartigen Bedürfnisse, die jedoch nur im Rahmen einer friedlichen Atmosphäre befriedigt werden können. Alle Individuen einer Gesellschaft haben das gleiche Recht auf Freiheit, und das bedingt, dass der Einzelne nicht nur seine eigene individuelle Freiheit sieht, sondern dieses Recht im gleichen Maße auch seinen Mitmenschen zugesteht, d. h. die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit keine Verletzung oder Beeinträchtigung der Freiheit der Anderen verursachen darf.Gleiches gilt für die innersten Bedürfnisse des Menschen. Wenn aus der Fülle der menschlichen Neigungen auch nur eine übermäßig verfolgt wird, werden andere zweitrangig und letztlich nicht erfüllt, wodurch der Mensch sich nur selbst schadet.Die Missachtung der eigenen Bedürfnisse und sich selbst damit Unrecht zuzufügen gereicht dem Einzelnen ebenso zu Schaden wie jede Form der Unterdrückung der Gesellschaft, allerdings mit dem Unterschied, dass Unterdrückung als Vergehen angesehen und strafrechtlich sanktioniert wird, während eine Handlung, mit der man sich selbst schadet, eine individuelle Angelegenheit ist.Die wesentliche Botschaft des Islam und der anderen himmlischen Religionen besteht in der Forderung, die inneren und natürlichen Bedürfnisse zu erfüllen und zwar so, dass keines dieser Bedürfnisse unerfüllt bleibt oder unterdrückt wird. Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen dem islamischen Denken und dem atheistischen Menschenbild, das im Westen verbreitet ist. Das islamische Verständnis von Unterdrückung (zulm) ist nicht nur auf andere bezogen, sondern beinhaltet auch die Unterdrückung des eigenen Selbst, wie Imam Ali (Friede sei mit ihm) in einem seiner Gebete mit den Worten „Oh mein Gott, ich habe mir selbst geschadet.“ [1] zum Ausdruck brachte.Wer seine sinnlichen Bedürfnisse überbewertet oder sich z. B. Gefräßigkeit oder Machtstreben hingibt, missachtet seine anderen menschlichen Bedürfnisse und tritt seine eigenen Rechte mit Füßen. Andererseits gilt aber auch derjenige, der seine materiellen Bedürfnisse nicht würdigt, alle materiellen weltlichen Genüsse ablehnt und nur seinen geistigen Neigungen folgt, aus islamischer Sicht gleichfalls als Sünder an sich selbst. Folglich gebietet der Islam das Streben nach Mittelmaß, das allein ein harmonisches Zusammenspiel aller Kräfte, Neigungen und Bedürfnisse des Menschen ermöglicht. Wer diese Harmonie in sich realisieren kann, gilt aus islamischer Sicht als vollkommen. Alle Gebote und Verbote des Islam zielen auf dieses harmonische Mittelmaß ab, und zwar äußerlich, indem der Mensch daran gehindert wird, die Rechte anderer zu verletzen und eine radikale soziopolitische Atmosphäre zu schaffen, und zweitens innerlich, indem der Mensch sich selbst vor Übertretung, Übertreibung und „moralischem Radikalismus“ bewahrt. Mit Radikalismus ist jedes individuelle und gesellschaftliche Handeln gemeint, das einen Absolutheitsanspruch erhebt und Vielfalt und jeder Art von Pluralismus abträglich ist. Wer seine verschiedenen Dimensionen und Bedürfnisse in sich selbst nicht auf einen Nenner bringen kann, wird auch auf gesellschaftlicher Ebene die Rechte seiner Mitmenschen nur schwerlich respektieren. Jede Form von Radikalismus, gleich ob er auf persönlicher und ethischer oder auf gesellschaftlicher und politischer Ebene praktiziert wird, lehnt der Islam ab.Die vorausgegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das dem Menschen inhärente Bedürfnis nach einem harmonischen Gleichgewicht seiner materiellen und spirituellen Bedürfnisse die Voraussetzung für sein individuelles wie auch das gesellschaftliche Wohlergehen ist. Der Islam respektiert diese Natur und weist dem Menschen mit seiner Lehre und Botschaft den Weg, denn wer außer dem Schöpfer, der die Eigenheiten und Wesensmerkmale des Menschen kennt, könnte einen besseren Weg zu einem harmonischen und ausgeglichenen Leben weisen? Dafür hat Gott den Menschen mit Vernunft begabt, Propheten entsandt und Heilige Schriften offenbart und ihm die Freiheit der Zustimmung oder Ablehnung gewährt. Ziel des Islam ist es, den Menschen so zu erziehen, dass er zum Menschen wird, d. h. seiner Würde als Mensch gerecht wird. Ein Muslim ist in erster Linie ein Mensch, und wenn er seine Würde und Verantwortung als Mensch nicht realisieren kann, entfernt er sich dadurch vom Islam. Gegenwärtig sieht sich der Islam bedauerlicherweise mit zwei radikalen Tendenzen konfrontiert, nämlich einerseits einer Gruppe von Menschen, nach deren Interpretation des Islam ein Großteil der menschlichen Bedürfnisse negiert wird; d. h. ein Muslim sollte ihrer Ansicht nach seine natürlichen Bedürfnisse unterdrücken und einen Teil seiner Menschlichkeit leugnen. Sie vertritt ein Islamverständnis, das die Verletzung der individuellen und gesellschaftlichen Rechte sanktioniert. Ein solcher radikaler „Islam“, ein Islam der Gewalt, der Übertretung, des Blutvergießens, des Terrors, des Zwangs und der Unfreiheit, in dem ein Saddam Hussein zum Vorbild eines Muslims hochstilisiert wird, steht dem wahren Islam diametral gegenüber. Imam Ali (Friede sei mit ihm) vergleicht einen solchen Islam mit der nach außen gekehrten Innenseite eines Pelzmantels.Neben diesen gestrauchelten „Pseudomuslimen“ gibt es eine Gruppe von Personen, die sich als Vertreter einer Zivilisation verstehen und darum bemüht sind, gerade diese radikale und verfälschte Auslegung des Islam als den wahren Islam darzustellen und zu propagieren. Sie stellen ihr Zerrbild vom Islam als Wahrheit dar und nutzen den Abscheu der Weltöffentlichkeit vor diesem falschen Islam für ihren eigenen Propagandakampf gegen den wahren Islam und alle Muslime. Ich sage mit Bestimmtheit, dass alle Terroristen und Mörder unter diesen Pseudomuslimen, wie auch jene, die vorgeben, im Namen ihrer Zivilisation den Terrorismus zu bekämpfen und die darum bemüht sind, den Islam mit Gewalt und Terror in Verbindung zu bringen, ein gemeinsames Ziel haben, einen gemeinsamen Weg gehen und sich dabei gegenseitig unterstützen. Ohne diese Pseudomuslime hätte die zweite Gruppe keine Gelegenheit, die Weltöffentlichkeit mit ihrer antiislamischen Propaganda zu betrügen. Deshalb verwundert es keineswegs, wenn zuweilen die Kooperationen dieser beiden Gruppen publik werden. Trifft es denn nicht zu, dass die Taliban, Bin Laden oder Saddam Husein in einigen Zeitabschnitten mit denjenigen zusammen arbeiteten, die jetzt gegen den Islam propagieren und vorgeben, den Terrorismus und die Gewalt zu bekämpfen und die Menschenrechte zu verteidigen? Die Sonne der Wahrheit wird nicht immer hinter den Wolken verborgen bleiben!Nachdem wir in der letzten Woche bereits den leitenden Repräsentanten der Kirche unsere Ostergrüße übermittelt haben, möchte ich abschließend unseren lieben christlichen Schwestern und Brüdern nachträglich meine herzlichen Ostergrüße entbieten.
[1] Ali ibn Abi Talib: Bittgebet des Kumayl, Qum: Ansaryan Book Sellers 1996, S. 11.